»Ich bin hier sehr einsam gewesen, Daniel«, sagte er. »Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind … Freunde?«
Es war zugleich eine Bitte und ein Angebot, bescheiden, aufrichtig, unwiderstehlich.
»Bestell noch Wein«, sagte Daniel, »den besten!«
Nach diesem Abend in Bremke trafen sich Earle Restarick und Daniel Mond über einen Monat lang fast jeden Tag, sie aßen zusammen zu Abend, machten Spaziergänge, nutzten den Mercedes aus dem Jahr 1935 für Ausfahrten. Daniel hätte keine Sorge haben brauchen, dass Earle ihn bei der Arbeit stören könnte. Im Gegenteil, es war eines der größten Anliegen seines neuen Freundes, herauszufinden, zu welcher Uhrzeit es Daniel am besten passen würde, ihn zu treffen oder von ihm abgeholt zu werden, und er tauchte nicht ein einziges Mal zu früh bei ihm auf. Auf diese Weise weit davon entfernt, Daniel abzulenken, schien Earle sich zudem dafür zuständig zu fühlen, seine Vergnügungen in Schranken zu halten.
»Ich weiß nicht, ob du wirklich einen Tag freimachen solltest«, würde er etwa sagen, irgendeinen geplanten Ausflug nach Hannover oder in den Harz betreffend.
»Aber es ist doch nur das eine Mal.«
»Genau solche Ausreden können ganz schnell zu einer schlechten Angewohnheit werden … insbesondere wenn man einen schwachen Charakter hat, wie du.«
Denn Earle war überzeugt, dass Daniels Natur allzu leicht beeinflussbar war und er sowohl zur Unnachgiebigkeit erzogen als auch geschützt werden musste. Daniel, der sich gern bemuttern ließ, genoss diese Bemühungen um sein Wohlergehen, und umso mehr, da diese kaum wirklich nötig waren. Denn mit seiner Arbeit kam er stetig und gut voran; und wenn überhaupt jemand es nötig hatte, daran erinnert zu werden, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, dann war das Earle selbst, der keinen festen Tagesablauf verfolgte und sich nur selten seinen Untersuchungen zu widmen schien.
»Was hast du heute gemacht?«, fragte Daniel immer beim Abendessen.
»Mit dem Auto rumgefahren … Den Roman von Anthony Powell gelesen, den du mir geliehen hast. Mir war nicht klar, dass ihr Engländer derart hintergründig sein könnt.«
»Arbeitest du auch irgendwann, Earle?«
»Das wird sich zur rechten Zeit schon alles finden, glaub mir. Im Moment warte ich noch, bis ich weiß, wie ich es anpacken soll. Es bringt nichts loszulegen, wenn man noch gar nicht weiß, wo man hinwill.«
»Das entscheidest du doch gewiss selbst.«
»In diesem Fall: Nein.«
Und dann wurde das Thema gewechselt.
Beide versuchten nur selten, etwas wirklich Persönliches oder intellektuell Tiefschürfendes zum anderen zu sagen, und begnügten sich mit leicht hingeworfenen Bemerkungen über was auch immer sie gerade taten. Daniel, dessen geistige Kräfte voll und ganz von den zunehmenden Komplikationen in den Aufzeichnungen Dortmunds in Anspruch genommen waren, fand diese triviale Art der Konversation angenehm und entspannend; Earle hingegen schien offenbar nicht in den Sinn zu kommen, dass überhaupt eine andere Art möglich oder wünschenswert war. »Es hat keinen Sinn, hier jetzt in alle Einzelheiten zu gehen«, sagte er, wann immer ihr Gespräch auf ein ernstes Thema kam: »Am Ende streiten wir noch.« Und obgleich Daniel es an einem anderen Ort, zu einem anderen Zeitpunkt durchaus für seine moralische Pflicht gehalten hätte, über Dinge zu »streiten«, schien Earles Gesellschaft auf seine eigentliche Gesinnung wie ein Narkotikum zu wirken, das ihn dazu brachte, sich in seinen Sitz sinken zu lassen und den geistigen Frieden, den die Droge ihm verlieh, so lange auszukosten, wie ihre Wirkung anhielt. Vielleicht, so dachte er ein ums andere Mal, hatte Earle recht, was seinen Charakter betraf: Er bot jedweder Art von Korrumpierung eine offene Angriffsfläche.
Wiewohl Earle Tiefgründigeres vermied, so offenbarte er doch zumindest bei einer Gelegenheit beunruhigenden logischen Scharfsinn. Es war an dem Tag, als sie das Flüchtlingslager für die Ostdeutschen besuchten. Man hatte sie einem Professor der Kunstgeschichte vorgestellt, der erst kurz zuvor aus Dresden geflüchtet war, einem alten Herrn mit schneeweißem Haar und, trotz des abgetragenen braunen Kampfanzugs, den er trug, feinem Auftreten, der der Meinung war, dass man ihm als einzige angemessene Wiedergutmachung für das, was er erlitten hatte, umgehend einen Lehrstuhl in England oder Amerika anbieten müsse. Obwohl Daniel diese Forderung des Professors für vermessen und zu scharf vorgebracht hielt, meinte er doch, dass die Gemeinschaft aller Gelehrten der freien Welt irgendwie etwas Gutes für ihn tun sollte, und später, als sie durch die schäbigen Nissenhütten hindurch zu ihrem am Tor abgestellten Mercedes gingen, bestürmte er Earle mit seiner Meinung dazu.
»Was weißt du denn über sein Vorleben?«
»Nur, dass er viele Jahre lang in Dresden gewesen ist.«
»Zu lange. Er hatte dort seit 1930 eine Stelle inne und nicht ein einziges Mal, weder vor noch während noch nach dem Krieg, auch nur die geringsten Probleme mit der Obrigkeit, egal in welchem Bereich oder welche politische Überzeugung gerade herrschte. Was folgerst du daraus?«
»Dass du bemerkenswert gut informiert bist.«
»Das bringt mein Thema mit sich, könnte man sagen. Was folgerst du daraus, den Professor betreffend?«
»Dass er ein fügsamer Mensch ist.«
»Wie wahr.«
Earle nahm mit Missfallen eine Zigeunerfamilie zur Kenntnis, die auf den Stufen eines Kantinengebäudes mit Blechgeschirr hantierte.
»Die ziehen aus Griechenland hierher«, sagte Earle. »Die schaffen’s überallhin. Kein Geld, keine Pässe – und einfach nicht zu stoppen … Dieser Professor, für den du dich so erwärmt hast. Er hat die ganze Zeit in Dresden gesessen und war fügsam, wie du es nennst, über zwanzig Jahre lang. Er ist locker sechzig Jahre alt – warum also sollte er das jetzt mit einem Mal ändern?«
»Er hat schlussendlich doch genug gesehen?«
»Der hat nie irgendetwas gesehen, das er nicht sehen wollte, in seinem ganzen Leben nicht. Und nur mal angenommen, dass er tatsächlich zuletzt in Schwierigkeiten geraten ist, oder dass wirklich etwas passiert sein sollte, das sein Knetgummi-Gewissen verletzt hat, dann hätte er nicht den ganzen Weg nach Göttingen zurücklegen müssen, um über die Grenze zu kommen. Berlin wäre nur halb so weit Richtung Norden entfernt gewesen, und Coburg nach Süden. Er kam nach Göttingen, Dannyboy, weil in Göttingen die britische Besatzungszone beginnt und das somit der nahegelegenste Ort war, an dem er mit Sicherheit von den Briten interniert werden würde, und nicht von den Amerikanern oder den Franzosen.«
»Ein nettes Kompliment.«
»Ein zweifelhaftes Kompliment. Die Franzosen hassen die Krauts so sehr, dass sie ihn absichtlich hätten verhungern lassen, und die Amerikaner sind solche Sicherheitsfanatiker, dass sie seine Lügengeschichte hätten auffliegen lassen. Nur ihr Briten seid milde genug, ihm Speis und Trank zu geben und ihm überdies auch noch Glauben zu schenken. Er ist ein Spitzel, Danny, wie er im Buche steht … Und es ist noch nicht mal sein Fehler. Denen hing es einfach zum Hals raus, wie er da in Dresden saß, blank wie ein falscher Fuffziger, inmitten all der Kunst, und sie haben zu ihm gesagt: ›Auf, Genosse, deine große Chance, der guten Sache zu dienen, ist jetzt endlich gekommen. Krieg deinen Arsch hoch und flüchte so schnell wie der Teufel zu den Briten. Und wenn sie dich dann in einem hübschen großen Büro im British Museum untergebracht haben, meldet sich unser Kontaktmann bei dir und sagt dir, was als Nächstes zu tun ist.‹«
»Der arme alte Kerl. Und was passiert jetzt?«
»Die Jungs von unserem Geheimdienst werden eurem einen Wink geben. Eure Jungs werden denken, dass das nicht die feine englische Art ist, sondern amerikanische Hysterie, werden aber niemandem auf die Füße treten wollen wegen all der Dollars, die ihr braucht, also werden sie dafür Sorge tragen, dass er da bleibt, wo er ist, bis er verrottet. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn beneide.«
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