Für Sarah
Die Schrift
Über den Autor
Wer sich vor zehn Jahren für alte ägyptische Schriften interessierte, kannte Leo Buri. Heute will sich niemand mehr an ihn erinnern. Das heißt: abgesehen von mir. Manchmal frage ich auf einem Kongress oder bei einem Vortrag von jemandem, der ihn gekannt haben muss, nach dem freundlichen Kauz und erhalte ausweichende Antworten. Er sei gestorben, ins Ausland verzogen oder man habe den Namen niemals gehört.
Leo hatte die Gabe, selbst jene für alte Schriften zu interessieren, denen im Grunde alles Alte zuwider war. Ich durfte einmal erleben, wie er zu meinem Freund Peter Kneiff fast einen ganzen Abend lang von einer mittelalten nubischen Hieroglyphe sprach. Peter vertrat mir gegenüber immer die Ansicht, erst wenn die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft gelöst wären, dürfe man sich mit denen lange untergegangener Kulturen befassen. Auf die Möglichkeit hingewiesen, man könne aus den Fehlern der Alten lernen, gestand er diesen einen Punkt naserümpfend und ohne Überzeugung zu. Mit Leo aber plauderte derselbe Peter stundenlang über die Mischung von Laut- und Bildschrift und über das Bedürfnis, ein wichtiges Ereignis für die Nachwelt festzuhalten. Nie habe ich Peter so angeregt ins Gespräch vertieft gesehen wie an jenem Abend, voll kindlich neugieriger Fragen und ungestüm gestikulierend. Plötzlich schien ihn das alte Ägypten sehr viel anzugehen, und dabei wollte er, glaube ich, gar nichts aus der Vergangenheit lernen; eher hatte ich den Eindruck, er wollte es einfach wissen. Es kommt mir deshalb auch nicht wie ein Zufall vor, wenn Peter sich als einziger meiner Bekannten noch an Leo erinnerte und er derjenige war, der mir von Leos Verschwinden berichtete.
Trotzdem hatte der Bericht Löcher, die zu stopfen Peter nicht bereit war. Vor allem ging aus seiner Erzählung nicht hervor, woher er das alles so genau wusste. Hatte er noch Kontakt zu Leo? Dazu wollte Peter nichts sagen und meinte sogar, er könne es nicht. Jetzt kann er es wirklich nicht mehr, weshalb es an mir ist, zumindest das weiterzugeben, was er preisgab. Die Erzählung mag unwahrscheinlich klingen, tatsächlich stützen aber die Dokumente, die ich in Peters Nachlass fand, diese Version der Ereignisse. Es handelt sich dabei vor allem um Schriften und Zeichnungen von Leo selbst, Briefe von Leo an seine Frau sowie Zeitungsartikel und Fotografien. Falls es direkt an Peter adressierte Briefe gegeben haben sollte, waren sie verschollen.
Leo Buri arbeitete damals im Archiv des Instituts für Ägyptologie in Wien. Seine Aufgabe bestand darin, relevante Zeitungsartikel zu sammeln und abzuheften sowie Digitalisierungen von Keilschriften, Hieroglyphen und meroitischen Schriftrollen anzufertigen und zu katalogisieren. Allerdings, so sehr ihn die Nähe der alten Texte auch ehrte, die er als Zeitreisende, Botschafter einer untergegangenen Vergangenheit betrachtete, mehr als ihre stoffliche Erscheinung interessierte Leo Schrift selbst. Deshalb erledigte er die archivarischen Pflichten zwar stets ordentlich, aber rasch, um sich dann seiner eigentlichen Leidenschaft zuzuwenden. Wenn ihn eine Schrift besonders reizte, fertigte er auf eigene Kosten zusätzliche Ausdrucke an, auf denen er Symbole einringelte, Verbindungslinien zeichnete und gezielt Buchstaben oder Teile von Buchstaben nachzog, um ihre Form zu betonen. Oft fertigte er von den bearbeiteten Drucken Kopien an, um sie mit einer weiteren Schicht zu bekritzeln. Ein Vorgang, der sich Dutzende Male wiederholen konnte. Bei einer Abendgesellschaft hatte ich einmal Gelegenheit, einen Blick auf ein solches vielfach beschichtetes Blatt zu werfen. Die Faszination, welche der Anblick in mir auslöste, musste mir anzusehen gewesen sein, denn Leo überließ es mir mit dem Hinweis, es handle sich um eine frühe Iteration. Ich verwahre den Druck noch heute sorgfältig in meinem Schreibtisch und behandle ihn wie eine seltene Grafik eines zu unrecht unbekannten, verstorbenen Künstlers.
Leo erforschte übrigens nicht den Inhalt der Texte. Für die Lebensweise der Ägypter interessierte er sich nur so weit wie zur Enträtselung der Bildzeichen nötig. Er wollte aus den alten Texten etwas über Schrift erfahren, und zwar nicht nur über ägyptische, sondern über jede Schrift. Er sprach zuweilen von seinem Vorhaben, eine eigene Bild-Lautschrift der Neuzeit zu entwickeln, und hielt deshalb immer nach charakteristischen Bildern der Zeit Ausschau. »Es überrascht Sie vielleicht, aber die Faust ist immer noch das elementare Symbol unserer Kultur« und dergleichen Sentenzen pflegte er von sich zu geben. Oder er entdeckte etwas, das ihn sichtlich überraschte: einen Aschenbecher, in dem eine Zigarette abbrannte, deren aschene Spitze herunterhing wie der Stab eines Seiltänzers. Dann zog er sein Notizbuch hervor und zeichnete mit kurzen, schnellen Linien eine Skizze. Er war ein geübter Zeichner, und obwohl er den Stift fast hektisch über das Papier schickte, ließ er kein Detail aus, nicht den Glanz der Keramik und nicht den Schattenwurf der Aschestange. Besonders gut traf er in seinen Zeichnungen die Oberflächen. Ein paar Striche, und man verstand, dass man es mit einem Stück Stoff oder mit der Maserung eines Holzes zu tun hatte. Für mich waren diese Skizzen kleine Kunstwerke, aber ihm waren sie nur Ausgangspunkt, Vorstufe zur eigentlichen Arbeit. Am nächsten Tag im Archiv vereinfachte und abstrahierte er sie und gelangte derart zu einem schlichten Symbol. So schloss er den Vorgang vorläufig ab. Ich sage vorläufig, weil das Symbol in einer Kiste landete, wo es darauf wartete, in das sich ständig erweiternde Schriftsystem entweder integriert zu werden oder in der Schublade der verworfenen Symbole zu enden, aus der kaum eines je entkam.
Nebenbei bemerkt arbeitete Leo fleißig, und noch in der Freizeit kreisten seine Gedanken um die Schriften. Dennoch klappte er allabendlich um fünf vor vier die Mappen zusammen und verstaute sie in seinem Schrank in der Archivecke. Er hatte vier tiefe Laden und darauf etwas Platz für Ordner, mehr brauchte Leo nicht. Die Originale holte er täglich neu aus der Bibliothek und die Fotografien benötigten wenig Platz. Die unbeschriebenen druckte er nicht einmal aus, sondern sammelte sie auf einer externen Festplatte, die über ein Netzteil separat mit Strom versorgt wurde und beim Laden ratterte und brummte. Alle Dateien hatte Leo nach Schriftsystemen und Epochen sortiert und auf entsprechend benannte Ordner verteilt. Kurz vor vier fuhr er seinen Computer herunter, steckte die Festplatte aus, rollte die Stromkabel ein und schloss alles zusammen in den Schrank. Seine Arbeit bedeutete ihm die Pyramiden von Gizeh und den Leuchtturm von Alexandria, aber er verstand wohl, dass sich außer ihm kaum jemand dafür begeisterte. Ich habe mich oft gefragt, wie manche Leute jahrelang einer Arbeit nachgehen können, für die sie höchstens die Anerkennung eines winzigen Kreises erhoffen dürfen. Wer keinen Ruhm erwartet, ist gegen sein Ausbleiben immun. Eine bessere Erklärung habe ich nicht – ich irre letztlich ohne Karte durch ein Labyrinth.
Um Punkt vier also trat Leo den Heimweg an, um für seine Frau Stefanie, die länger arbeitete als er, Abendessen zu kochen. Seine Frau war Ressortleiterin für Innenpolitik bei einer großen Tageszeitung und kam jeden Abend später als geplant und erschöpft nach Hause. Leos Arbeit war leicht und machte ihm Spaß, weshalb es sich gut anfühlte, ihr zumindest das Vergnügen frischer Eiernockerln, eines Strudels oder eines bunten Salats zu bereiten. Wenn sie den gedeckten Tisch sah, weiteten sich ihre Augen und sie drückte Leo und küsste ihn auf den Mund.
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