Roman
Simon Krappmann
Intro Intro kaputt Wortart: Adjektiv, umgangssprachlich Bedeutung: nicht mehr funktionierend, beschädigt, gestört, abnormal, krank, unbrauchbar, abgestoßen, außer Atem, groggy, abgewichst, hinüber, ruiniert, kollabiert, zerfallen, zerrissen, verloren, tot Irreparabel?
1. Showdown in Meiningen
2. Schlupf
3. Als Frieda kaputtging
4. Backpacker
5. Friedhof der Raubtiere
6. Godspeed
7. Als Thomas kaputtging
8. Strick und Klinge
9. Take Me Out
10. Milngavie after Midnight
11. Als Jana kaputtging
12. Hike Your Own Hike
13. Die kaputte Kuh
14. Zelten mit Sartre
15. Als Steffen kaputtging
16. Das schwere Los der Entropie
17. Bonnie Banks
18. Lady of the Lake
19. Over the Hills
20. Der schwarze Schwarm
21. Blut
22. Das tote Schaf
23. Swally
24. Der Wanderer Steffen
25. Vom Stein, der keine Wünsche erfüllt
26. Die Kaputtheit von allem
27. The Sanctuary
28. Das letzte Revival
29. Der Schrei
30. Goodbye, Brother
31. Das Geheimnis von Loch Ness
32. Als Jana kaputtging – Teil 2
33. Der unbarmherzige Braveheart
34. Als Thomas kaputtging – Teil 2
35. So geht Abschied
36. Silberstreif
Ein Reisefragment von 2007
Der Autor
Impressum
kaputt
Wortart:
Adjektiv, umgangssprachlich
Bedeutung:
nicht mehr funktionierend, beschädigt, gestört, abnormal, krank, unbrauchbar, abgestoßen, außer Atem, groggy, abgewichst, hinüber, ruiniert, kollabiert, zerfallen, zerrissen, verloren, tot
Irreparabel?
Friggas Nervenwurzeln waren wunderbare Verstecke. Dort nistete sich das Virus ein und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Menschen, die sich in jungen Jahren mit den Windpocken anstecken, haben meist ihr restliches Leben davon Ruhe. Nicht so Frigga. Ihre Varizella-Zoster-Invasoren harrten geduldig aus, bis sie spürten, dass ihr Wirt gestresst war, aus dem Gleichgewicht gefallen, ins Chaos gestürzt. Perfekt! Erst schlichen sie sich in Friggas Kopf durch den Nervus trigeminus, der Freiheit entgegen, dann durch den Nervus ophthalmicus, auf das Licht zu, bis in den Augapfel hinein. Gemeinerweise spürte Frigga keinen Schmerz, nur eine Taubheit am Lid. Dann eine Schwellung. Dann einen Druck. Leider dachte Frigga zu dieser Zeit, als sie gerade einmal achtzehn Jahre alt war: Was soll’s, ich hab’ andere Probleme, geht schon wieder weg, is’ eh alles scheiße, Schminke wird schon helfen, nächste Woche kann ich auch noch zum Arzt gehen. Tragischerweise war es da bereits zu spät. Seitdem ist Frigga auf dem rechten Auge blind.
Eigentlich stört sie dieser Umstand nicht, auch jetzt nicht, mit dreiundzwanzig Jahren. Im Gegenteil: Das Matschauge ist zum Bestandteil ihrer Identität geworden. Aus diesem Grund nennt sie sich auch nicht mehr Frieda, wie ihre Eltern sie genannt haben. Frigga heißt sie jetzt, wie die einäugige Rächerin in »Thriller – ein unbarmherziger Film«. Genauso ist das Leben für Frigga-Frieda: ein unbarmherziger Film. Die Einäugigkeit hilft, das klarer zu sehen. Frigga hat nun den vollen Durchblick: Mit dem einen Auge sieht sie das Leben, mit dem anderen den Tod. Die Krankheit hat sie kaputt und ganz gemacht, zu einem Yin und Yang in persona. Man kann sagen: Sie hat sich mit den Folgen der Gesichtsrose arrangiert, trägt heute mit Stolz ihre schwarze Augenklappe, passend dazu einen schwarzen Mantel. Man kann sagen: Der Tod steht ihr gut.
An diesem Tag ist Schwarz die einzige Farbe. Frigga fährt mit dem klapprigen Renault, den ihr Mutter Sonja überlassen hat, zu einer Beerdigung. Sie darf fahren, denn ihr linkes Auge sieht einwandfrei. Es ist ihr Adlerauge, das an der visuellen Front tapfer die Stellung hält. Ein augenärztliches Gutachten hat bestätigt, dass Beweglichkeit, Kontrastsehen und Blendempfindlichkeit im grünen Bereich liegen. Eine begleitende praktische Fahrprüfung hat bewiesen, dass Frigga sicher fährt, wenn auch etwas ruppig.
Heute wird Steffen beerdigt. Steffen war Friggas bester Freund. In den Schulpausen drehte er mit ihr den Zauberwürfel um die Wette und philosophierte über den Irrsinn der Existenz. Steffen war ihr Counterpart, bis er nach Jena zog, um die stoffliche Existenz zu studieren: Physik, Schwerpunkt Astrophysik. Er war ihr Seelenverwandter, bis sie sich entfremdeten, schrittweise und schmerzhaft. Bei seinem Suizid vor wenigen Tagen waren sie schon Lichtjahre voneinander entfernt.
Friggas innerer Kosmos tobt, während sie unter bedecktem Himmel durch Meiningen fährt. Sie liebt und hasst diese Stadt, würde beides aber nie zugeben. Offiziell geht ihr Meiningen am Arsch vorbei. Als Einzige ihres Freundeskreises ist sie hier hängengeblieben, perspektivlos im idyllischen Werratal, von den Wäldern Südthüringens umhüllt, vom Rest der Welt unbemerkt. Sie und der Rest der Welt halten Distanz, basierend auf gegenseitigen Vorbehalten. Nur heute ist alles anders. Heute wird der Rest der Welt ein Auge auf Frigga haben.
Sie fährt vom Neubaugebiet bergab in Richtung Stadtpark, dann wieder bergauf zum Parkfriedhof. An der Nordmauer stellt sie den Renault ab und schwingt die Fahrertür auf. Sie ist spät dran, was gut ist: Es erspart Smalltalk und intensiviert den Auftritt. Trotz ihrer Menschenscheu hat Frigga ein Faible für theatralische Auftritte. Wenn, dann richtig! Dann malt sie sich aus, sie wäre die Hauptfigur in einem Hollywoodfilm, mit Kameraschwenks und Spezialeffekten und Soundtrack und allem, was dazugehört.
Für diesen Auftritt geht sie ein Stück über den Friedhof, auf das stillgelegte Krematorium zu, bei dem sich die Trauerhalle befindet. Die Gäste haben schon Platz genommen. Von weitem sieht es aus, als wäre halb Meiningen erschienen, um einem Lebensverneiner die letzte zweifelhafte Ehre zu erweisen. Ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens zieht die Tür zu. Frigga kommt näher, bleibt vor dem Eingang stehen und holt tief Luft. Zeit für ihren neuesten Kopfkino-Blockbuster.
Frigga Film Productions presents: »Showdown in Meiningen«, einen knallharten Genremix von den Machern von »The Crow« und »Django«. Eine Fremde in Schwarz ist gekommen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie betritt die Halle wie eine Italowestern-Antiheldin den Saloon. Der Fremden gefällt nicht, was sie sieht: eine Masse heuchlerischer Ahnungsloser, die sich zu ihr umdreht, außerdem einen Prediger, der schon erste Worte auf den Lippen hat. Einen Prediger, Herrgott! Neben ihm steht die Urne auf einem Podest, davor Blumenkränze und ... ein Bild von Steffen. Was zur Hölle! Die schwarze Rächerin ist gerade noch rechtzeitig erschienen, denn hier nimmt das Unrecht überhand. Sie muss gegen eine Übermacht menschlicher Dummheit antreten. Heute geht es um alles: Ehrlichkeit gegen Ignoranz, Freiheit gegen Konformismus, Existenzialismus gegen Gott. Kann die Protagonistin diese Schlacht gewinnen?
Fürs Erste schleicht sich Frigga in eine hintere Reihe, zu ihren Freunden Jana und Thomas. Doch sie wird nicht lange sitzen und schweigen können. Dieser Anblick ist schier unerträglich. Sie wird reden müssen, denn niemand kannte Steffen so gut wie sie, außer Thomas, aber der ist zu brav, um den Mund aufzumachen. Thomas wirkt betreten, hat Tränen in den Augen. Jana ist noch gefasst. Wortlos setzt sich Frigga neben sie. In der Nähe hört sie ein Nuscheln, darunter ein abschätziges »die Verrückte«, falls sie das richtig gehört hat. Solche Kommentare prallen seit Jahren an ihr ab. Das heißt: nicht wirklich. Genau genommen sind sie unbarmherzig, verbale Gewalt. Aber solange das Leben ein unbarmherziger Film ist, passen die O-Töne ins Schema.
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