Janas Rucksack liegt vor dem Bett in ihrem Zimmer, das Christine unverändert gelassen hat. An der Dachschräge klebt weiterhin das Davidoff-Werbeplakat mit dem Muskelmann, der aus dem Wasser auftaucht. Das Plakat ist vom Bett aus perfekt zu sehen, nicht ohne Grund. Nun fragt sich Jana jedoch, wie sie das ganze Zeug in ihren Rucksack bekommen soll, ihren gut eingetragenen Wandergefährten, der für diese Tour aber ein bisschen größer sein könnte. Sie packt die schweren Sachen ins Hauptfach, nah an den Rücken, wie sie es von Christine gelernt hat. Davor stopft sie die Wechselkleidung: Regenfestes und Wärmendes für den Norden, nach Möglichkeit aus geruchsneutraler und schnell trocknender Merinowolle. Ihre Auswahl ist dahingehend begrenzt. Ins Bodenfach kommen leichte Utensilien wie Handtuch, Klopapier und Badelatschen. Die kleinen Heiligtümer verstaut sie im Deckelfach, darunter ihre Kamera, ein Moleskine-Notizbuch und eine Bonbon-Metalldose. Die Bonbons hat Jana entfernt und Kondome hineingelegt. Man kann ja nie wissen. Rein äußerlich würde man Jana so manches nicht zutrauen.
»Mein Hannes, ich habe dir einen Kilt genäht«, freut sich Oma Helga. Sie verwechselt Thomas seit einiger Zeit mit einem seiner Brüder. Davon abgesehen ist sie noch rege bei der Sache, vor allem beim Nähen. Strahlend überreicht sie Thomas einen Tartanrock mit Karomuster, hauptsächlich in Rot.
»Zieh ihn über, damit ich das Gummiband im Bund zurechtschneiden kann!« Er streift den faltenreichen Stoff über die Hose, wobei er bemerkt, dass ihm der Rock fast bis an die Knöchel reicht. Macht aber nichts, denkt er sich. Beim Wandern wird er eine wunderbare Beinfreiheit erleben. Wie ein Clan Chief wird er das Werk seiner geliebten Omi in den Highlands präsentieren.
»Muss ich noch kürzen, du Spargel! Versprich mir, dass du im Königreich genug Beef isst!«
»Ja, Omi, danke.«
Helga lebt bei Thomas’ Eltern Marina und Ingo in einem sanierungsbedürftigen Haus, das vom Freundeskreis den wenig charmanten Namen »Bumsbruchbude« erhalten hat. Zum Sanieren fehlt bis heute das Geld, unter anderem, weil Marina und Ingo hier fünf Kinder großgezogen haben. Vier sind mittlerweile weg, dennoch gibt es kaum Platz, weil Ingo als Programmierer und IT-Dealer Berge von Computertechnik im Haus lagert. Thomas schläft daher im Gästezimmer, das er sich schlimmstenfalls mit Geschwistern teilen muss. Ein Grund, nicht mehr allzu oft nach Meiningen zu fahren.
Auf dem Dachboden wühlt sich Ingo durch weitere Berge: Kram von früher, darunter ein Einpersonenzelt. »Da haben wir’s!«, jubelt er und pustet den Staub von der Hülle. »Brauchste auch ’nen Schlafsack und ’ne Unterlage?«
»Ne, danke, bekomm’ ich schon von Jana.« Thomas hat sich vorgenommen, in seinem späteren Leben ordentlicher zu haushalten als sein Vater. Es müssen auch keine fünf Kinder werden.
Mama Marina hat frühzeitig jegliche berufliche Ambition aufgegeben und sich ganz der Kinderbetreuung verschrieben. Vor der Abreise demonstriert sie ihre Fürsorge, indem sie Thomas’ Kulturtasche packt, inklusive Antiallergika und Neurodermitis-Cremes. Für alle Fälle ist sogar eine angebrochene Kortisonsalbe dabei. Thomas bekommt in unregelmäßigen Abständen Ekzeme, die rot und schuppig werden und brutal jucken. Wenige Wochen vor dem Abi war es so schlimm, dass er ins Klinikum musste. »Schlag ein!«, hielt ihm damals Frigga die Hand hin, als ob sie nun beide im »Klub Krankenhaus« wären.
Trotz all der Gefahren, die da draußen auf das Immunsystem eines hochsensiblen Physikstudenten lauern, freut sich Thomas tierisch auf den Trip. Er packt seine Sachen in einen DDR-Rucksack mit massivem Metallgestell. Bevor er sein Deospray verstaut, sprüht er den Rucksack von oben bis unten damit ein. In eine Seitentasche schiebt er sein ausziehbares Teleskop, den treuen Begleiter, den er auch in Hinblick auf Friggas Zustand für angebracht hält. Ein Fernglas wäre geradezu zynisch. Das Taschenteleskop ist dagegen optimal, und was wäre schöner als der Sternenhimmel, beobachtet von einem einsamen Hügel, frei von städtischer Lichtverschmutzung, hoch oben im Norden!
Der Himmel über Meiningen ist so grau wie gestern. Frigga steht auf ihrem Balkon, mit den Ellbogen auf der Brüstung und dem Kinn auf den Fäusten. Sie blickt über die Stadt, die sie liebt und hasst und die ihr offiziell am Arsch vorbeigeht. Vor ihr geht es steil nach unten, erst fünf Stockwerke, dann weiter einen Hang hinab. Gesprungen ist sie bislang nicht, wegen ihrer Angst vor dem Sturz und dem anschließenden Nichts. »Die Angst ist der Schwindel der Freiheit«, brachte Søren Kierkegaard ihren Zwiespalt auf den Punkt, und das schon im neunzehnten Jahrhundert, obwohl Frigga da noch lange nicht geboren war. Wie ein Prophet beschrieb er ihre Existenz, die dem Leben am Rand einer Klippe gleicht. Schwindelerregend richtig lag er damit. Dennoch weigert sich Frigga, seiner Lösung gegen die Angst zu folgen: sich in die Arme Gottes fallen zu lassen. Sie weiß ja nicht, ob sie am Ende nicht doch nur ins Nichts stürzen würde. Den Gegenbeweis ist ihr Kierkegaard bis heute schuldig geblieben.
Seit mehr als vier Jahren lebt sie mit Sonja wie in einer getrennten Wohngemeinschaft: jede in ihrer eigenen Wohnung, doch oft zu zweit, um gemeinsam zu essen und aufeinander aufzupassen. Sonja gibt sich Mühe, Frigga an die schönen Seiten des Lebens zu erinnern, und Frigga gibt sich Mühe, Sonja vor dem Abrutschen in die Esoterik zu bewahren. Von allen philosophischen Selbstmorden ist das für Frigga der grausamste, ein Dahinsiechen in weichgespültem Bullshit. Aus ihrer Sicht bietet Esoterik nur die Option, anzunehmen, was andere von höheren Wesen »gechannelt« bekommen, oder sich automatisch auszuschließen. Wer nachfragt und diskutiert – beides liegt in Friggas Natur –, disqualifiziert sich für das System des affirmativen Einlullens. Sonja ist aber eigentlich zu intelligent dafür, findet Frigga. Klar, seit der Scheidung ist sie einsam, manchmal so verloren wie Frigga selbst, doch das rechtfertigt nicht den Aura-Engel-Pendel-Eskapismus.
Kai ist nach der Trennung in eine Junggesellen-Wohnung gezogen, unten in der Altstadt. Das Gebäude ist vom Neubaugebiet aus erkennbar. Die relative Nähe bedeutet auch, dass sich Frigga, Sonja und Kai öfter in Meiningen begegnen, im Supermarkt, Englischen Garten oder anderswo. Meist bleiben Dramen in der Öffentlichkeit erspart, allerdings nicht immer, denn die Neigung zu theatralischen Auftritten hat Frigga von Kai geerbt. Letztes Jahr, als sie mit ihrer Ausbildung zur Archivarin fertiggeworden und im Staatsarchiv Meiningen übernommen worden war, begegnete sie Kai auf dem Weg zur Arbeit. Sie hielt am Zebrastreifen, damit ein gewisser Jogger die Straße überqueren konnte. Ihren Fuß drängte es aufs Gaspedal, doch andererseits wollte sie keine weitere Beule im Renault. Also ließ sie nur den Motor aufheulen und erhöhte somit Kais Laufgeschwindigkeit. Meiningen ist klein, und manchmal sehr nachtragend.
Beim Packen hat Frigga ein Problem: die Kaffee-Vorratsdose, die sie irgendwie in Daniels Wanderrucksack unterbringen muss. Der Rucksack ist groß, und Daniel hat ihn fast unbenutzt im Keller zurückgelassen, doch mit der Dose reicht der Platz vorne und hinten nicht. Dazu müssen noch die Baumwollklamotten, die Regenjacke, die Trinkflasche, die Süßigkeiten, der Kulturbeutel mit dem Antischuppen-Shampoo und das diverse Kleinzeug: Taschenlampe und -messer, MP3-Player und Kopfhörer, Zigarillos und Feuerzeug, Ersatz-Augenklappen et cetera. Auch der Zauberwürfel, mit dem sie so oft gegen Steffen antrat, gehört selbstverständlich dazu. Mit ein wenig Erfindergeist passt letztlich alles in die Fächer. Ein paar sperrige Sachen bindet Frigga einfach außen an den Rucksack. Wenig ästhetisch, aber die Lösung des Kaffeedosen-Problems.
Während sie vor dem Badspiegel steht, wird ihr bewusst, dass sie sich als Frigga noch nie so weit von zu Hause fortbewegt hat. Ist sie aufgeregt? Sie löst die Augenklappe und zieht sie über ihre langen, dunkelbraunen Haare. Die meisten ihrer Klappen sind Sonderanfertigungen: die Vorderseite aus glattem Leder, die Rückseite aus samtig weichem Stoff. Ein paar Modelle, die von einem Mittelalter-Gothic-Versandhandel stammen, haben zwischen der Leder- und Textil- noch eine Metallschicht sowie Nieten am Rand. Im Spiegel betrachtet Frigga das Auge, das sich selbst nicht mehr sieht, ihr trübes Matschauge, das höchstens noch juckt und sticht. Nur wenige kennen diesen Anblick, im Grunde nur die Ärzte, Sonja und Jana. Für die anderen bleibt Frigga die Unnahbare in Schwarz, »die Verrückte«. Sie wäscht sich das Gesicht, streift eine der Gothic-Klappen über und grinst ihr Spiegelbild an. Heute Nacht wird sie mit beiden Augen den Tod sehen.
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