Heilige Maria, ohne Sünden empfangen, bete für
uns, die wir uns an dich wenden. Amen.
Für N. S. R. N. als Dank für das Wunder
und für Mônica Antunes,
die niemals ihre Segnungen vergeudet hat.
Ihr Töchter von Jerusalem,
weinet nicht über mich,
sondern weinet über euch selbst
und über eure Kinder.
Lukas, 23:28
Geleitwort
Im Dezember 1945 fanden zwei Brüder auf der Suche nach einem Rastplatz in einer Höhle in der Region des heutigen Hamra Dom in Hochägypten einen Tonkrug voller Papyri. Anstatt vorschriftsgemäß die lokalen Behörden zu benachrichtigen, verkauften sie die Schriften nach und nach auf dem Antiquitätenmarkt und verhinderten so, dass die Regierung auf sie aufmerksam wurde. Einige wurden auch von der Mutter der beiden, die darin »negative Energien« vermutete, verbrannt.
Im Jahr darauf zerstritten sich die Brüder aus nicht überlieferten Gründen. Die Mutter, die die besagten »negativen Energien« der Handschriften dafür verantwortlich machte, übergab sie einem Priester, der eine davon an das Koptische Museum in Kairo verkaufte. Dort erhielten sie ihren heutigen Namen: die Nag-Hammadi-Schriften (ein Hinweis auf die dem Fundort am nächsten gelegene Stadt). Ein Experte am Museum, der Ägyptologe Jean Doresse, erkannte die Bedeutung des Fundes und zitierte die Schriften zum ersten Mal in einer Publikation aus dem Jahr 1948.
Bald tauchten auf dem Schwarzmarkt weitere Papyrus-Codices auf. Nun wurde auch die ägyptische Regierung auf die Bedeutung und den Umfang des Fundes aufmerksam und versuchte, die Ausfuhr aus dem Land zu unterbinden. Kurz nach der Revolution von 1952 wurde der größte Teil des Materials dem Koptischen Museum von Kairo übergeben und zu nationalem Kulturgut erklärt. Nur ein Text gelangte ins Ausland. Er tauchte bei einem belgischen Antiquar auf. Es gab fruchtlose Versuche, ihn in New York und Paris zu verkaufen, bis er schließlich 1951 vom C. G.-Jung-Institut in Zürich erworben wurde. Nach dem Tod des berühmten Psychoanalytikers kehrte der Codex, der nunmehr unter dem Namen Codex Jung bekannt war, nach Kairo zurück, wo heute etwa tausend Seiten Fragmente der Schriften von Nag Hammadi versammelt sind.
Die gefundenen Schriften sind Übersetzungen griechischer Texte, die Ende des ersten Jahrhunderts der christlichen Zeit und im Jahr 180 geschrieben und als die »Apokryphen« bekannt wurden, womit die Evangelien bezeichnet werden, die nicht in der Bibel stehen, so wie wir sie heute kennen.
Wie kam es dazu?
Im Jahr 170 trat eine Gruppe von Bischöfen zusammen, um festzulegen, welche Texte Teil des Neuen Testaments sein sollten. Das Kriterium war einfach: Alles, was dazu dienen konnte, die Häresien und doktrinären Spaltungen der damaligen Zeit zu bekämpfen, sollte darin enthalten sein. Es wurden die Evangelien, die wir heute kennen, die Apostel-Briefe und alles das ausgewählt, was in das System dessen passte, was die Bischöfe für den Kern der christlichen Lehre hielten. Die Hinweise auf dieses Treffen und die Liste der aufgenommenen Bücher befinden sich im Canon Muratori .
1974 entdeckte Sir Walter Wilkinson, ein englischer Archäologe, in der Nähe von Nag Hammadi ein weiteres Manuskript, das in drei Sprachen – Arabisch, Hebräisch und Latein – verfasst war. Vorschriftsgemäß sandte er den Text an die Abteilung für Altertum des Museums von Kairo, die ihn schriftlich wissen ließ, dass mittlerweile weltweit mindestens 155 Abschriften dieses Dokuments im Umlauf seien, praktisch alle mit demselben Wortlaut. Eine Radiokohlenstoffdatierung ergab, dass das Material des Dokuments relativ neu war – es wurde auf 1307 nach Christus datiert; seine Herkunft konnte bis in die Stadt Akkon, oder Accra, zurückverfolgt werden, die außerhalb Ägyptens, im Norden des heutigen Israels, liegt. Sir Wilkinson erhielt eine schriftliche Genehmigung der Regierung (Ref. 1901 / 317 / IPF-75 mit dem Datum vom 23. November 1974), das Dokument nach England ausführen zu dürfen.
An Weihnachten 1982 lernte ich in Porthmadog in Wales Sir Walter Wilkinsons Sohn kennen. Ich erinnere mich noch gut, dass er bei unserem Treffen auch beiläufig ein Manuskript erwähnte, das sein Vater gefunden hatte, aber keiner von uns beiden ging weiter auf das Thema ein. Wir haben uns seitdem immer wieder gesehen, und ich habe ihn jedes Mal besucht, wenn ich in seinem Heimatland auf Lesereise war.
Am 30. November 2011 erhielt ich zu meiner Überraschung plötzlich eine Kopie des Originaltextes, den mein Bekannter bei unserer ersten Begegnung erwähnt hatte.
Wie gern würde ich mit
den Worten beginnen:
»Jetzt, da ich am Ende meines
langen Lebens angekommen bin,
halte ich für alle, die nach mir
kommen, fest, was ich auf Erden
gelernt habe. Möge es ihnen
nützen.«
Nur leider entspricht dies nicht der Wahrheit. Ich bin gerade einmal einundzwanzig Jahre alt, habe Eltern, die mir viel Liebe gegeben haben und eine gute Erziehung angedeihen ließen, und bin mit einer Frau verheiratet, die ich liebe und die mich liebt – und doch wird das Leben uns morgen trennen. Jeder wird für sich den eigenen Weg gehen, das eigene Schicksal und die eigene Art und Weise suchen, dem Tod ins Auge zu blicken.
Für unsere Familie ist heute der 14. Juli 1099. Für die Familie meines Nachbarn Yakob, mit dem ich schon als Kind hier in den Straßen Jerusalems gespielt habe, ist es das Jahr 4859 – er liebt es, mir zu sagen, dass die jüdische Religion älter ist als meine. Für den verehrten Ibn al-Athir, der sein ganzes Leben lang eine Geschichte aufgeschrieben hat, deren Abschluss nun bevorsteht, neigt sich das Jahr 492 seinem Ende zu. Zwischen uns herrscht weder Einigkeit hinsichtlich der Zeitrechnung noch hinsichtlich der Art, Gott zu verehren, doch ansonsten ist unser Zusammenleben immer sehr harmonisch gewesen.
Vor einer Woche haben sich unsere militärischen Befehlshaber versammelt: Die französischen Truppen, die vor den Toren stehen, sind unseren unendlich überlegen und besser ausgerüstet. Alle Bürger wurden vor die Wahl gestellt, entweder die Stadt zu verlassen oder bis zum Tod zu kämpfen, denn wir würden zweifelsohne besiegt werden. Die meisten haben sich entschlossen zu bleiben.
Die Anhänger des Islam versammeln sich in diesem Augenblick in der al-Aqsa-Moschee. Die Juden haben den Mihrab Dawud, Davids Heiligtum, ausgewählt, um dort ihre Soldaten zusammenzuziehen, und den Christen, die in vielen Stadtteilen verstreut leben, wurde die Verteidigung des Südens der Stadt übertragen.
Draußen können wir bereits die aus dem Holz von eigens dafür zerlegten Schiffen gebauten Belagerungstürme sehen. Aufgrund der feindlichen Truppenbewegungen nehmen wir an, dass sie im Morgengrauen angreifen und im Namen des Papstes, im Namen der »Befreiung« der Stadt, gemäß dem »göttlichen Wunsch« viel Blut vergießen werden.
Heute Abend fand sich im selben Hof, in dem vor einem Jahrtausend der römische Stadthalter Pontius Pilatus Jesus der Menge übergeben hatte, damit er gekreuzigt würde, eine Gruppe aus Männern und Frauen jeden Alters zusammen, um dem Griechen zuzuhören, den wir hier alle als »den Kopten« kennen.
Der Kopte ist ein seltsamer Mensch. Als junger Mann verließ er seine Heimatstadt Athen, um auf die Suche nach Abenteuern und Reichtum zu gehen. Am Ende klopfte er halb verhungert an die Tore unserer Stadt, die ihn freundlich aufnahm. Mit der Zeit gab er seine Absicht auf, seine Reise fortzusetzen, und beschloss, sich hier niederzulassen.
Er fand eine Anstellung bei einem Schuster und begann – wie Ibn al-Athir –, all das, was er sah und hörte, für die Nachwelt aufzuzeichnen. Er zeigte kein Interesse daran, sich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen, und niemand drängte ihn dazu.
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