Er hatte also zu tun gehabt, insgesamt gesehen mit sehr gutem Ergebnis – doch war Arbeit allein nicht alles.
Ich kann Dir gar nicht sagen (schrieb er, weltmännische Gewandtheit vorschützend, an Jacquiz Helmut), wie eintönig Göttingen gerade ist. Der deutsche Sommer scheint alles Leben auszudörren. Mir war früher nie bewusst, was es heißt, auf einer Insel zu leben, auf der man nie weiter als eine Stunde oder so vom Meer entfernt ist.
Mein amerikanischer Kumpel ist verschwunden. Er fing im Juni an, schlechte Laune zu demonstrieren, ohne dass ich erfahren habe, warum, und hat sich am Ende in einem Anfall plötzlicher Pikiertheit aufgeplustert – und seither ist er nicht wieder aufgetaucht. Das war eine sehr seltsame Sache. Anfangs dachte ich, der Grund sei vielleicht Missgunst wegen meiner Arbeitsdisziplin – denn der arme Earle hat in seine eigene Arbeit, wie mir schien, nie so recht hineingefunden, oder wusste nicht, wo er überhaupt anfangen sollte. Doch nachdem ich noch mal darüber nachgedacht habe, habe ich mir überlegt, dass Missgunst nicht zu ihm passt. Ich habe das Gefühl, dass er verärgert war, weil er meinte, dass ich meine Zeit mit etwas zu Schwierigem verschwende und dass, selbst wenn ich das Problem lösen könnte, das Ergebnis weder mir noch sonst jemandem etwas bringen wird … (Das, dachte Daniel, war keine ganz ehrliche Einschätzung, sondern nur das, was er Jacquiz Helmut zum derzeitigen Zeitpunkt erzählen wollte.) … Und doch ist es schwer zu wissen, warum er sich so verhalten hat. Er hat mir zugesetzt, als würde ich schwarze Magie betreiben oder den Stein der Weisen finden wollen. Ich bin sicher, hier liegt irgendeine simple, aber unterhaltsame Schrulle der transatlantischen Psychologie vor, die Du mir im Handumdrehen erklären wirst, wenn wir uns wiedertreffen.
Ich hoffe, das wird bald sein, denn es wäre schön, mal mit jemandem zu reden. Meine Wirtin ist durch langjährige Routine so gut darin, sich praktisch unsichtbar zu machen, dass sich mir hier keine Möglichkeit für ein Gespräch bietet. Herr Doktor Aeneas von Bremke, den ich, seit ich meine Aufwartung gemacht habe, ohnehin kaum gesehen habe, hat sich den Sommer über in eine Berghütte im Harz zurückgezogen. Selbst der Bibliothekar, der mir gern davon erzählt hat, wie er vor dem Krieg Student am Lancaster College war, ist an den Bodensee abgereist, wo er jedes Jahr einen Monat Ferien macht, und sein Assistent ist ein unzufriedener, selbstmitleidiger junger Mann mit farbenfrohen Pickeln im Gesicht. Und die Krönung von allem ist, dass nun auch noch mein Lieblingsrestaurant seine Tore für drei Wochen geschlossen hat.
Es wäre schön, wenn Du für ein paar Tage herkommen könntest. Ich weiß, dass der Inhalt meines Briefes keinen großen Ansporn darstellt, aber Göttingen ist tatsächlich eine sehenswerte kleine Stadt, für eine Universität wie geschaffen … würde sich hier doch nur der Anblick eines vertrauten Gesichts (oder wenigstens die Hoffnung darauf) bieten.
Mir ist natürlich vollkommen klar, dass Du Cambridge jetzt nicht verlassen kannst. Du arbeitest gewiss gerade sehr intensiv an Garibaldi, und natürlich bieten die langen Sommerferien sich immer ganz besonders fürs Arbeiten an – das College halb leer, nur eine Handvoll Freunde da, mit denen man sich in fröhlicher kleiner Runde zusammenfinden kann, wenn einem danach ist. In Göttingen ist mir solche Fröhlichkeit versagt, daher denke ich oft an Dich und male mir aus, was Du zu dieser oder jener Stunde wohl gerade tun magst.
Gerade ist doch sicher das Sommerfestival in vollem Gang. Im März hieß es, dass die Marlowe Society im Juli »Der Familientag« aufführen will, nicht unbedingt mein Lieblingsstück, obwohl ich die Stelle mit der Uhr, die im Dunkeln stehen bleibt, mag. Hast Du es Dir angeschaut? Falls ja, lass mich doch wissen, ob Toby mitgespielt hat (er wollte unbedingt eine Rolle ergattern, erinnere ich mich) und wie er sich geschlagen hat; ich finde es immer sehr schön, wie er so schüchtern und schlaksig auf die Bühne tritt und dann alle an die Wand spielt, ohne es zu wollen.
Ich sehne mich so sehr danach, wieder zurück zu sein. Aber die Arbeit hier wird mich noch mindestens zwei Monate beschäftigen, selbst wenn alles seinen bestmöglichen Lauf nimmt, und ich kann frühestens Ende September damit rechnen, fertig zu sein …
Er dachte an diesen Brief, als er jetzt mit seinem Kaffee auf der sonnigen Terrasse des Restaurants oben am Berg saß. Er hatte ihn vor zwei Tagen in dem Gefühl geschrieben, dass er denen, die ihm gewogen genug waren, dergleichen zu erkennen, nun doch ein Zeichen geben sollte, dass es nicht gut um ihn stand. Doch obwohl er Jacquiz so viel von seiner Einsamkeit geschrieben hatte, wie er übers Herz brachte, hatte er doch seine Angst verschwiegen: die Angst, die nun jedes Mal in ihm aufstieg, wenn er sich wieder an die Aufzeichnungen Dortmunds machte (»Leg sie in das Grab zurück, in das sie gehören!«), und die andere Angst, noch diffuser und doch umso hässlicher … »Geh heim, bevor es zu spät ist.«
Daniel legte einen Schein auf die Rechnung vor sich und fügte einige Münzen aus seiner Geldbörse hinzu. Dann ging er ans Ende der Terrasse und betrachtete aufmerksam das unter ihm liegende Göttingen. Ein gesitteter Ort, und gewiss vollkommen harmlos: Es gab dort nichts, was er fürchten musste, abgesehen von der bedrückenden Atmosphäre und der Hitze. Wieder erklang ein Signalhorn von den Kasernen her. Er wusste nicht, was der Ruf bedeutete, doch übermittelte er irgendwie, dass der Nachmittag schon weit fortgeschritten war. Es war Zeit, den Berg hinabzugehen, zu Dortmunds toten Zeichen zurückzukehren, um ihnen Leben einzuhauchen.
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