Siebels dachte über die Worte von Timm nach. Mit seinem einfachen Mordfall befand er sich plötzlich mitten im Weltgeschehen. Was Timm ihm da erzählte, klang beklemmend logisch. Trotzdem zweifelte er am Sinn der ganzen Geschichte.
»Wie kann es sein, dass die vielen Partner von der Überorganisation keine Ahnung haben und doch in deren Sinne arbeiten?«
»Dafür sorgt das Schulungszentrum von Paulsen. Dort wird den jungen Leuten eingebläut, wie sie ihren Job zu machen haben.«
»Ich habe in diesem Zusammenhang auch schon das Wort Gehirnwäsche gehört«, gab Siebels zu.
»So kann man es durchaus nennen. Paulsen sucht sich junge Leute mit guten Uniabschlüssen und überdurchschnittlichem Ehrgeiz. Dabei handelt es sich meist um Leute, die auch an Minderwertigkeitskomplexen leiden und das durch außergewöhnliche Leistungen zu kompensieren versuchen. Leute, die alles geben, um die Ziele zu erreichen, die ihnen vorgesetzt werden.«
Siebels blätterte in seinen Notizen, die er bei seinem Gespräch mit Peter Bockelmann gemacht hatte. »Für das Schulungszentrum ist ein gewisser Jochen Trutz verantwortlich. Haben Sie zu dem auch Informationen?«
Timm nickte und zündete sich eine neue Zigarette an. »Trutz ist in der Organisation ganz oben angesiedelt. Sein Lebenslauf ist beeindruckend. Er wurde 1958 in Hamburg geboren, verpflichtete sich nach dem Abitur bei der Bundeswehr und studierte dort Psychologie. Von 1992 bis 1994 war er Berater der obersten Heeresführung. Dann ging er in die freie Wirtschaft und verdingte sich bei einem großen Versicherungskonzern. Er baute einen Strukturvertrieb auf und befehligte unzählige selbst ernannte Vermögensberater, die den Leuten abends in deren Wohnzimmern Versicherungspolicen aufschwatzten. Zu diesem Zeitpunkt war der Strukturvertrieb bei Versicherungen schon ein gebrandmarktes Kind und die meisten Versicherungsgesellschaften haben sich von dieser unseriösen Vertriebsform getrennt. Aber Trutz hat sich noch zwei Jahre in diesem Geschäft behaupten können. Anschließend hat er das gleiche Geschäftsmodell benutzt, um die Produkte amerikanischer Unternehmen im deutschen Markt abzusetzen. Meistens ging es dabei um dubiose amerikanische Telefongesellschaften, die Telefonkarten für ihre Netze absetzen wollten. Diese Netze existierten oft nur theoretisch, mittlerweile spielen sie überhaupt keine Rolle mehr auf dem Markt. Trutz hat es trotzdem geschafft, damit mehrere Millionen Euro Umsatz zu erwirtschaften. Sein Erfolgsrezept bestand aus dem Aufbau von Verkäuferhierarchien und der Motivation dieser Verkäufer in den Hierarchiestufen. Die Leute in den obersten Stufen hatten nur die Aufgabe, weitere Verkäufer anzuwerben. Bei jedem Geschäftsabschluss wurde eine Provision fällig. Die Provisionen erwirtschafteten die unteren Hierarchiestufen, also unzählige Leute, die als Verkäufer für Trutz unterwegs waren. Die Provisionen wurden aber von unten nach oben aufgeteilt. Trutz stand immer an der Spitze der Pyramide und verdiente an jedem Geschäft mit. Die Verkäufer, die ganz unten in der Struktur standen, konnten durch ihre Geschäfte kaum Geld verdienen. Ihr Ziel war es, in der Hierarchie nach oben zu klettern, um dort an das große Geld zu gelangen. Trutz machte ein Vermögen mit diesem System und die Leute, die für ihn die Drecksarbeit machten, verehrten ihn wie einen Gott. Er war der Messias, der wusste, wie man aus Tellerwäschern Millionäre macht. Trutz war ein begnadeter Rhetoriker. Regelmäßig gab es Verkäuferveranstaltungen, bei denen Trutz vor Hunderten von Verkäufern seine berühmten Motivationsreden hielt. Der konnte den größten Mist erzählen, seine Jünger klebten an seinen Lippen und bejubelten ihn wie einen Popstar.«
Siebels registrierte, dass die Aussagen von Timm über Trutz im Großen und Ganzen mit denen von Bockelmann übereinstimmten. Er bekam große Lust, diesen Trutz näher kennen zu lernen. »Wie kam Trutz dann zu Paulsen?«, wollte Siebels wissen.
»Trutz hatte in dieser Zeit für eine amerikanische Telefongesellschaft gearbeitet, deren Direktor anscheinend eng mit dem Führungszirkel von World Consulting verbandelt war. Trutz muss dann knapp zwei Jahre in den USA gewesen sein. Als Paulsen aus den USA den Auftrag bekam, eine Unterorganisation von World Consulting in Deutschland aufzubauen, bekam er auch den Auftrag, Trutz mit ins Boot zu nehmen. Trutz ist also nicht unbedingt ein Angestellter von Paulsen. Vielleicht steht er sogar über ihm. Leider wissen wir nicht genau, wie hoch Jochen Trutz in der Gunst der Amerikaner steht.«
»Was ist mit meiner Mordverdächtigen, Frau Lehmann? Gehört sie zu dem auserwählten Kreis der Partner, die in die Existenz von World Consulting eingeweiht sind?«
»Ich weiß es nicht. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin und so offen mit Ihnen über streng vertrauliche innere Angelegenheiten spreche. Ich erhoffe mir von Ihren Ermittlungen eine Antwort auf diese Frage.«
»Sie hatten sie nicht auf der Rechnung. Sven Müller war Enthüllungsjournalist. Das hat Sie aufgeschreckt. Habe ich Recht?«
»Ja, das haben Sie richtig erkannt. Das Ganze kann natürlich alles auch nur ein dummer Zufall sein. Aber wenn Müller an einer Geschichte über World Consulting gearbeitet hat, steckt vielleicht mehr hinter seinem Tod als ein Streit mit seiner Freundin.«
»Mein Job ist es also herauszufinden, ob Sabine Lehmann eine gewöhnliche Mörderin oder eine Staatsfeindin ist?«
»Nein. Das ist mein Job. Ich bitte Sie nur, mich bei meinem Job zu unterstützen.«
»Und was passiert, wenn sie eine Staatsfeindin ist?«
»Dann ist Ihre Arbeit beendet und die Sache wird vom Verfassungsschutz übernommen. Wenn sie aber zweifelsfrei nicht mit World Consulting in Verbindung gebracht werden kann, bleibt es ein Mordfall in Ihrer Zuständigkeit. Wenn Sie bei Ihren Ermittlungen auf World Consulting stoßen, berichten Sie ausschließlich an mich. Unabhängig davon, ob Sabine Lehmann direkt oder indirekt Gegenstand dieser Ermittlungsergebnisse ist. Jeremy Boyle steht Ihnen dabei nach seinem eigenen Ermessen als Informant zur Verfügung.«
Siebels dachte an sein Vorhaben, Till als Kunden bei einer der Partnerinnen einzuschleusen, behielt diese Angelegenheit dann aber für sich. Timm erhob sich und reichte Siebels die Hand.
»Auf eine gute Zusammenarbeit.«
Siebels nickte nur zerstreut. Das musste er jetzt erst verdauen und dann Till und Charly beibringen. Dass Jensen zunächst außen vor bleiben sollte, fand er gar nicht mehr so verlockend. Timm hatte die Verantwortung auf seine Schultern gelegt und da lag sie nun schwer.
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