Freitag, 06. Februar 2009
Sabine Lehmann hatte ihr grünes Krankenhaushemd gegen eine Jeans und einen Pullover eingetauscht. Zwei Polizeibeamte standen bereit, um sie in die Haft zu begleiten. Siebels bat die Beamten, noch einen Moment zu warten. Er ging mit Sabine Lehmann in einen Aufenthaltsraum. Sie waren allein, setzten sich auf die Plastikstühle und schauten sich eine Weile wortlos an. Siebels hatte Mitleid mit ihr. Sie wirkte zerbrechlich, aber auch völlig ruhig und gefasst.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, unterbrach Siebels das Schweigen.
»Natürlich. Fragen Sie.«
»In dem ersten Traum, von dem Sie mir erzählt haben, da haben Sie sich ihr Brautkleid vom Leib gerissen. Bei allen anderen Träumen tragen Sie es wieder. Gibt es dafür eine Erklärung?«
Sabine Lehmann lächelte. »Nein, ich kann diese Träume nicht erklären. Vielleicht erzähle ich sie Ihnen ja gerade deswegen. Aber es gibt noch mehr Träume. Möchten Sie noch einen hören?«
»Möchten Sie mir noch einen erzählen?«
»Ich weiß nicht warum, aber ja. Ich fühle mich immer gut, wenn ich Ihnen von meinen Träumen berichte. Sonderbar, oder?«
»Vielleicht schenken Sie Ihrer Seele damit ein Stück Freiheit?« Siebels staunte über seine eigenen Worte und fand sie irgendwie blöd.
»Das haben Sie schön gesagt«, freute sich Sabine Lehmann und fing an zu erzählen.
Ich bin in einem Kaufhaus. Es ist Samstagmittag und es herrscht viel Betrieb. Mit der Rolltreppe fahre ich in das erste Stockwerk. Damenbekleidung. Ich suche nichts Bestimmtes. Ich betrachte mir dieses und jenes, finde aber nichts, was mir gefällt. Ich probiere verschiedene Schuhe an, doch sie sind mir alle zu klein. Dann gehe ich zu den Blazern, ziehe einen nach dem anderen über und betrachte mich im Spiegel. Aber sie sind mir alle zu eng. Meine Finger befühlen verführerische Dessous. Ich berühre den feinen Stoff mit meinen Fingerspitzen. Doch in meinen Händen fühlt sich das Teil so schwer an, als wäre es aus Blei gegossen. Ich gehe weiter und habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Bei den Hosenanzügen suche ich nach meiner Größe und finde einen eleganten schwarzen Zweiteiler. Mein Herz rast und mein Pulsschlag erhöht sich. Eine Verkäuferin fragt mich nach meinen Wünschen. Sie steht ganz nah vor mir. Ihre Nähe macht mich nervös. Ich frage sie, wo ich den schwarzen Hosenanzug anprobieren kann. Sie zeigt mir den Weg zur Umkleidekabine. Ich gehe in die Kabine und ziehe den Vorhang hinter mir zu. Mir wird heiß, eine Schweißperle läuft über meine Stirn. Ich schlüpfe aus meiner Jeans und meinem Pullover und steige in die schwarze Hose. Sie ist viel zu eng, ich kann den Hosenknopf nicht schließen. Gestresst steige ich wieder aus der Hose. Im Slip und im BH stehe ich in der Kabine und betrachte mich im Spiegel. Plötzlich fühle ich mich besser. Ich betrachte mich von vorne, von hinten und von der Seite. Dann öffne ich meinen BH und lasse ihn fallen. Ich fühle mich noch wohler und betrachte mich wieder im Spiegel. Ich kann wieder atmen und mein Herz klopft ruhig und gleichmäßig. Dann steige ich auch aus meinem Slip und lasse ihn neben den BH fallen. Ich fühle mich wie befreit und betrachte mich weiter im Spiegel. Plötzlich schiebt sich der Vorhang ein Stück zur Seite. Die Verkäuferin schaut herein und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich lächele sie an, ziehe den Vorhang ganz auf und verlasse nackt die Kabine. Die Verkäuferin stottert nervös hinter mir. Ich drehe mich noch einmal zu ihr um und sage, dass ich mich in meiner Haut sehr wohl fühle. Wie befreit laufe ich durch die Abteilung. Die Blicke der weiblichen Kundschaft begleiten mich auf Schritt und Tritt. Eine Dame faucht ihren Mann an, er solle gefälligst woanders hinschauen. Ich winke dem Mann lasziv zu und betrachte mir die ausgelegten Waren. Aber ich brauche keine Kleidung. Mehrere Verkäuferinnen stehen beisammen und tuscheln aufgeregt. Es stört mich nicht. Ich verlasse die Abteilung und fahre auf der Rolltreppe eine Etage höher. Ein junger Mann steht eine Stufe hinter mir und stößt einen Pfiff aus. Ich erreiche die Herrenabteilung und laufe zwischen Anzügen von Boss und Armani hindurch. Von allen Seiten werde ich beobachtet. Fassungslose Blicke, neugierige Blicke, geile Blicke. Sie haften an mir wie zuvor die Kleidung, die mich so beengt hat. Die Blicke geben mir Auftrieb, befreien mich von meinen Sorgen und Nöten. Dann kommen zwei Herren von der Kaufhausleitung. Sie haben eine Decke dabei, die sie mir umlegen. Mit der Decke umhüllt mich eine tiefe Traurigkeit. Die Herren reden auf mich ein, ich müsse mir etwas überziehen in diesem Kaufhaus. Ich nicke und sage, dass ich mir ein Brautkleid überziehen möchte. Die Herren sind sehr nett und begleiten mich zu der Abteilung mit den Brautkleidern. Kurz darauf verlasse ich das Kaufhaus in einem weißen Brautkleid.
»So sind Sie also zu dem Brautkleid gekommen«, stellte Siebels fest.
»So oder so ähnlich. Das Kaufhaus ist ein Wegweiser. Dort bekommt man die Kleidung, die man zum Leben benötigt. Als ich mit meinem Studium fertig war, wollte ich die Kleidung einer Geschäftsfrau tragen. Aber es hat mir nichts davon gepasst.«
»Aha«, kommentierte Siebels verständnislos. »Kommt auch noch mal ein Bräutigam in Ihren Träumen vor?«
Sabine Lehmann schaute Siebels verwirrt an. »Nein. Komisch, ein Bräutigam ist in den Träumen nicht vorhanden.«
»Gab es denn ernste Absichten zwischen Ihnen und Herrn Müller?«
»Wann ist eigentlich seine Beerdigung?«
Wenigstens hat sie kapiert, dass er tot ist, dachte Siebels. »Ich weiß es nicht. Möchten Sie daran teilnehmen?«
»Ist das möglich, wenn ich im Gefängnis bin?«
»Ja, Sie werden dann aber von Polizisten begleitet.«
»Nein, das möchte ich nicht. Wie sieht das denn aus. Aber einen Kranz würde ich gerne am Grab hinterlassen.«
»Ich kümmere mich darum«, versprach Siebels.
»Das ist nett. Danke schön. Dann mache ich mich jetzt mal auf den Weg hinter die schwedischen Gardinen.« Sabine Lehmann lachte herzerfrischend über ihren Spruch.
»Die Beamten fahren Sie zuerst in Ihre Wohnung, damit Sie ein paar Sachen zusammenpacken können. Im Gefängnis darf man nämlich weder nackt noch in einem Brautkleid herumlaufen.«
Wieder lachte Sabine Lehmann.
»Soll ich jemanden informieren?«, erkundigte sich Siebels.
Die eben noch fröhliche Sabine Lehmann schaute Siebels jetzt ernst an und nickte. »Meinen Vater. Er lebt in Gießen.«
Siebels notierte sich die Telefonnummer von Günther Lehmann. Dann brachte er Sabine Lehmann zu den wartenden Beamten und verabschiedete sich von ihr.
Zurück im Büro fand Siebels Till brütend über der Fraport-Akte. Er stellte ihm das Diktiergerät vor die Nase. »Abtippen.«
»Hä?«
»Nachschub für die Traumakte. Tipp Tipp.«
»Ich dachte, wir wären uns einig gewesen. Ich bin Undercoveragent und keine Tippse.«
»Du hörst dich schon viel besser an. Was macht der Husten?«
»Hat sich ausgehustet. Ich bin fit und kann loslegen mit meinem Sicherheitsdienst. Oder wollen wir doch lieber Escort machen?«
»Nein, wollen wir nicht. Ganz sicher nicht.«
»Du bist der Boss. Willst du gar nicht wissen, ob ich in dem Fraport-Ordner was gefunden habe?«
»Doch. Sowie du das Band abgetippt hast. Oder interessieren dich die Träume gar nicht mehr?«
»Ein neuer Traum im Brautkleid?«
»In diesem Traum kommt sie zu ihrem Brautkleid.«
Till betrachtete sich das Diktiergerät, nahm es in die Hand und strich sanft mit der Fingerspitze darüber. »Okay, ich muss es wissen, du hast gewonnen.« Er steckte die Kopfhörer ein, ließ das Band laufen und gab die Erzählung von Sabine Lehmann in seinen Computer ein.
Siebels rief die Nummer von Günther Lehmann an. Der wusste noch gar nichts von der Lage, in der sich seine Tochter befand. Es dauerte eine kleine Weile, bis er seinen ersten Schock überwunden hatte und sich mit Siebels unterhalten konnte. Günther Lehmann war Witwer. Seine Frau, die Mutter von Sabine Lehmann, war vor zehn Jahren nach einer schweren Krankheit verstorben. Günther Lehmann wollte sofort nach Frankfurt kommen und sich in einem Hotel einquartieren. Siebels gab ihm seine Nummer, er wollte sich mit ihm baldmöglichst treffen. Dann klopfte er dem tippenden Till auf die Schulter. »Kann ich rauchen?«
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