1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 »Schwester Gudule?«
»Hihi«, lachte es dünn zurück.
Wie konnte diese Frau überhaupt überlebt haben? Unglaublich, dass ausgerechnet sie die leibliche Mutter ihrer geliebten Esmeralda war. Sophie wünschte sich, diese Begegnung nicht gehabt zu haben. Sie konnte das Geschöpf in der offenen Klause nicht ignorieren, aber sich darum kümmern konnte sie noch weniger, es plagten sie genug eigene Sorgen. Einige Augenblicke lang stand sie am Rand der Mulde und kämpfte mit sich. Zu Simon auf den Turm zu eilen war alles, was sie wollte, aber die Sterbende einfach liegen zu lassen, brachte sie nicht übers Herz.
»Schwester Gudule, kommt mit mir, Ihr braucht etwas Stärkendes, eine warme Suppe vielleicht und einen Umhang, Ihr habt ja kaum etwas, womit Ihr Eure Blöße bedecken könnt.«
Als sie sich hinabbeugte, um der Frau aufzuhelfen, fand sie, dass eine ordentliche Waschung wohl auch vonnöten sei.
»Paquette hat einen Schatz, einen wertvollen Schatz«, brabbelte die Schmächtige und öffnete die linke Hand, in der zwei schmuddelige Knäuel lagen. Sophie schauderte es. Trotz der grauen Färbung und zerfransten Struktur erkannte sie sofort die beiden ehemals rosafarbenen Säuglingsschuhe wieder, Esmeraldas Talisman und Erkennungszeichen für die Mutter.
»Schwester Gudule! Kommt in die Sonne, ich will Euch helfen«, bat Sophie. Diese Frau hatte nur die kleinen Seidenschuhe, sie selbst aber hatte die Liebe und Lebendigkeit der Tochter erleben dürfen. Auf Sophie gestützt erreichten sie den Galgen, auf den die Morgensonne schien. Zum Glück war er leer und um diese Zeit keine Menschenseele außer ihnen beiden auf dem Place de Grève. Sie lehnte die Klapprige an den breiten Pfosten, diese schloss die Augen und drückte die linke Faust ans Herz. Anscheinend hielt sie die beiden Seidenschuhe immer in der Faust.
»Hier kam das Mönchlein zur Klausnerin. Hier hat es sich in die schöne Agnès verwandelt. Hier hat die Trauernde ihre Tochter wiedergefunden«, murmelte sie. Sophie wusste nur zu gut, was sie meinte, denn Esmeralda war damals mit Frollos Hilfe im Mönchsgewand aus der Kathedrale geflohen, hatte sich dann bei den Klarissen versteckt, bis sie mithilfe der Äbtissin unter falschem Namen nach Chartres gebracht worden war. Eigenartig an dieser ohnehin verworrenen Tatsache war, dass Esmeralda nun denselben Vornamen trug, den sie einst von ihrer Mutter bekommen hatte, Agnès. Und auch diese war nicht immer Schwester Gudule gewesen, sondern eine begnadete Sängerin und Tänzerin in Riems, Paquette Chantfleurie genannt. Warum hatte das Schicksal sie ausgerechnet jetzt zusammengeführt, da sie an der Schwelle eines neuen Lebensabschnittes war und alle Kraft für Simon brauchte, der es nur schwer verkraften würde, den Turm der Notre-Dame zu verlassen?
»Ich will Euch helfen, Schwester Gudule, aber versprecht mir, nicht mehr von Eurer Tochter zu sprechen, mit niemandem, sonst schadet Ihr Eurem Kind. Versteht Ihr das?«
Die Angesprochene starrte Sophie aus leeren Augen an.
»Ist die Sängerin und ist es nicht. Ist die Klausnerin und ist es nicht. Ist die Mutter und ist es nicht und ist es nicht und ist es nicht«, brabbelte sie.
»Schweigt! Ich bitte Euch!«
»Ist die Sprecherin, doch keiner hört zu und keiner kann verstehen, keiner.«
»Das hoffe ich! Bleibt hier in der Sonne, ich hole Hilfe. Wenn Ihr weggeht, werde ich Euch nicht suchen, ich habe wahrlich anderes zu tun. Bleibt also hier, Schwester Gudule.«
Diese lächelte nur vor sich hin und reckte ihr graues Gesicht in die Sonne. Sophie eilte zurück zum ›Hof der Wunder‹. Sie wusste, dass Trouillefou niemals erlauben würde, die ehemalige Klausnerin aufzunehmen, denn Verschwiegenheit war von ihr nicht zu erwarten, doch Sophie besaß ja noch etwas von Frollos Geld. Einen Teil davon könnte sie für die leibliche Mutter ihrer Esmeralda verwenden und damit ihr Gewissen beruhigen. Zwar trug sie keine Schuld daran, Esmeraldas Mutter geworden zu sein, doch sie hatte alle Freuden mit dem Kind erlebt, während Gudule am Schmerz des Verlustes zerbrochen war. Das allein verpflichtete sie, der Bedauernswerten zu helfen. Im Quartier traf Sophie nur Rosa an, alle anderen waren längst zu ihren Tätigkeiten unterwegs. In kurzen Worten war die Notlage geschildert.
»Im Augenblick habe ich nur zehn écus bei mir. Das muss reichen, um für Schwester Gudule eine ordentliche Behandlung im Badehaus zu sichern, etwas Kleidung und eine vorübergehende Bleibe in einer Schenke. Schau bitte täglich nach ihr, ich werde das auch tun. Heute Abend komme ich wieder und bringe dir mehr Geld für sie.«
»Schade, dass wir sie nicht hier aufnehmen können, das würde die Sache erheblich vereinfachen«, meinte Rosa.
»Heimlich auf keinen Fall! Trouillefou hängt sie an den Galgen, so viel ist sicher.«
»Ich weiß. Leider!«
Gemeinsam eilten sie zum Place de Grève, wo die dünne Frau in ihren Lumpen saß und sich sonnte.
»Kommt, Schwester Gudule, ich kümmere mich um Euch«, sagte Rosa mit sanfter Stimme.
»Paquette hat einen Schatz, zwei Teile und einen Schatz. Es ist der wertvollste Schatz«, brabbelte diese und öffnete ein wenig die linke Faust, um Rosa die schmuddeligen Säuglingsschuhe zu zeigen.
Simon war es gar nicht mehr gewohnt, allein im Turm zu sein. Er umarmte seine Mutter, als sie endlich wiederkam. Sie hatte vom Markt etwas Brot und Obst mitgebracht. Nach dem verspäteten Frühstück schrieb sie ihm die wichtigsten Neuigkeiten auf. Enzo bald wiederzusehen freute ihn sehr, aber die Notre-Dame verlassen zu müssen schien ihm unvorstellbar. Seit seinem zehnten Lebensjahr lebte er in dem Turm. Mit nicht einmal fünf Jahren hatte ihn Dom Frollo von der Findlingskrippe aufgelesen und sich um ihn gekümmert. Seitdem war die Kathedrale Teil seines Lebens und die Glocken seine ganze Freude, auch wenn sie ihm das Gehör genommen hatten. Wie konnte ein Leben außerhalb dieser Mauern aussehen? Seine Tauben könnten ihm davon erzählen, aber er war nicht so frei wie sie.
»Bleiben!«, formulierte er. Sophie brach das Herz. Sogar sprachlich bat er zu bleiben, wo er sonst nicht gern Worte aussprach. Dass sie am Abend wieder weggehen würde, verstand er auch nicht. So knapp wie möglich notierte sie die Begegnung mit Schwester Gudule, erwähnte aber nicht, dass diese Esmeraldas Mutter war. Simon war auch so schon von all den Veränderungen verwirrt genug. Hoffentlich ging es Schwester Gudule etwas besser. Wieder zum ›Hof der Wunder‹ zu gehen fiel ihr schwer, doch Rosa brach gleich mit ihr auf, um in der Schenke nahe des Place de Grève die Klausnerin aufzusuchen. Unterwegs berichtete sie: »Gudule ist so unterernährt, dass sie kaum Nahrung verträgt. Nach einem langen Bad und nachdem man ihr die Haare kurz geschnitten hat, flößte ich ihr warme Brühe ein, nur das kann sie zurzeit vertragen. Trotz der Sommerhitze in der Stadt war sie über die beiden Kleider und die Schuhe dankbar, die ich ihr gekauft habe. Sie trägt die Kleider übereinander und sieht dennoch aus wie ein Gerippe. Es wird Wochen dauern, bis sie wieder genesen ist, doch mach dir keine Sorgen, Sophie. Solltet ihr drei bald aufbrechen müssen, werde ich mich weiter um sie kümmern.«
Dankbar legte Sophie die Hand auf Rosas Schulter.
Gudule bewohnte eine Kammer im hinteren Bereich der billigen Schenke.
»Ich habe der Wirtin ausdrücklich gesagt, dass dem Gast kein Wein geboten werden darf. Da ich aber täglich vorbeischaue und ihr die Suppe bringe, wird das schon gut gehen. Man war hochzufrieden, als ich für zwei Wochen im Voraus zahlte. Unsere Klausnerin ist hier so etwas wie ein Ehrengast.«
Rosa war stolz auf ihr Verhandlungsgeschick und auch über die pflegende Aufgabe. Sie klopften zaghaft.
»Niemand klopft bei der Klausnerin. Man geht vorbei, schaut kaum herein. Und keiner entdeckt ihren Schatz, den frisch gewaschenen schönen Satz«, hörten sie die brabbelnde dünne Stimme und traten ein.
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