Karoline Georges - Totalbeton

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In einem Hochhaus lebt ein Kind mit seinen Eltern – auf engstem Raum in der 5969. Etage. Wir wissen nicht, ob es ein Junge oder Mädchen ist, nicht, wie alt es ist, nicht, in welcher Zeit die Geschichte spielt, die das Kind in direktem, fast unbeteiligtem Ton erzählt. Es ist die Geschichte aller Menschen, die in dieser Zukunft leben. Nur dass dieses Kind neugieriger als alle anderen ist und ergründen will, was sich hinter dem oder eigentlich in diesem Beton verbirgt. Langsam dringen wir mit dem Kind in das GEBÄUDE ein, in seine Poren, seine Nervenbahnen, seine Adern.
Schemenhaft verstehen wir allmählich, wie sein Organismus lebt und welcher unerhörte Stoffwechsel ihn befeuert. Da gibt es ein Außen, wo Ausgestoßene leben, die alles geben, um wieder hineinzukommen. Wie sie sich dabei gegenseitig massakrieren, wird als disziplinierende Dauersendung auf einen großen Bildschirm in jede Wohnung übertragen. Wer sich dort nicht fügt, wird abgeholt und ausgestoßen. In wessen Auftrag? Man weiß es nicht, nicht einmal, ob es diese unsichtbare Macht überhaupt gibt.
Karoline Georges verbindet Science-Fiction, Naturwissenschaften und Existenzphilosophie zu einer verstörenden Dystopie, in der ein befremdliches Lebensgefühl spürbar wird und sich beim Lesen Maßstäbe verschieben. Das immer Ungeheuerlichere des zunehmend Entdeckten verliert sein Geheimnis nicht, es gewinnt eine eigene Wahrheit, und gerade dieses Paradox wirft uns zurück auf existenzielle Fragen. So konsequent hat uns noch kein Roman beunruhigt. Totalbeton kommt einer Erneuerung des Genres gleich.

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Karoline Georges

Totalbeton Roman

Aus dem Französischen (Québec)

von Frank Heibert

Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien We acknowledge - фото 1

Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien. We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts für die freundliche Unterstützung.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Sous béton 2011 Éditions Alto - фото 2

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Sous béton .

© 2011 Éditions Alto, Québec

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Frank Heibert

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Umschlagentwurf: Ferdinand Ulrich, Berlin

Umschlag gesetzt aus Ginto Nord

Satz: Marco Stölk, Berlin

Inhalt gesetzt aus FF Hertz

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-906910-92-5

eISBN 978-3-906910-93-2

Für Yun und Alex

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1

Ich war in der 804 eingeschlossen, 5969. Etage.

Das GEBÄUDE hatte noch viel mehr Etagen. Aber ich wusste nicht wie viele. Der Vater blieb immer vage.

Draußen, vor der Schwelle des GEBÄUDES, stapelten sich die Ausgestoßenen. Nicht zu zählen. Weit hinter dem Menschengewimmel der Horizont, grau. Und dann, dahinter?

Jedes Mal, wenn ich den Vater danach fragte, seufzte er ungeduldig. Und verkündete dann:

Dahinter ist nichts mehr.

Bei mir war alles ordnungsgemäß.

Mir wurde eine medizinische Identnummer zugeteilt, die jeden Morgen beim Aufwachen meine Existenz bestätigte, und eine in meinen Nabel implantierte Sonde entnahm täglich eine Probe meiner Person, um die Qualität meines biologischen Zustands zu überprüfen. Eine weitere Kennziffer bestätigte jeden Morgen meine Verbindung mit dem WISSEN; der Prozentsatz der bereits zugeteilten Lehrzeit bestimmte die folgenden Schritte des Programms der Ausbildungszuteilung. Ich war also regulär erfasst.

Nur hatten der Vater und die Mutter es nicht für nötig gehalten, mich mit einem Namen auszustatten.

Falls das Kind eines Tages einen Namen haben möchte, wird es ihn selbst auswählen, hatte die Mutter bei meiner Geburt vorgeschlagen.

Und der Vater hatte kalt erklärt:

Wir werden du dazu sagen, das reicht.

Draußen gibt es nur Staub zu fressen, verkündete der Vater jeden Morgen.

Draußen verschlingen sich die Ausgestoßenen gegenseitig, fügte sofort die Mutter hinzu.

Wir werden hier verfaulen, das ist unsere ganze Geschichte, vervollständigte ich in geeignetem Tonfall, zwischen dem Vater und der Mutter vorm Bildschirm immobilisiert. Ein kleiner Bildschirm, knapp ein Quadratmeter, darauf die Gräue von Horizont und Himmel, eine Gräue mit gelegentlichen Wolken, mal heller, mal dunkler.

Dabei sah ich seit langem weder Wolken noch Bildschirm mehr. Ich beobachtete stattdessen unter dem weißen Schein der Leuchte die Wände ringsum. Glatte Wände, ohne jegliche Öffnung. Beton, tief in die Lithosphäre eingelassen, bis hoch in die Stratosphäre hinauf.

Ringsum nur Beton. Decke, Boden, Sitze, alles Beton. Eine graue, uniforme Masse, außer im Wohnzimmer mit den drei dunklen Flecken nebeneinander an der Wand, nah am Boden. Beim Hinsehen wirkten die Flecken feucht, doch beim Berühren beschmutzte ein trockenes Pulver die Finger. Laut der Mutter waren sie lange vor meiner Geburt aufgetaucht. Manchmal kamen ein paar schillernde Körnchen an die Oberfläche der Flecken und fielen dann zu Boden. Ich beobachtete die Flecken gern. Aber vor allem lauerte ich auf Risse. Laut dem Vater war das ein unwahrscheinliches Ereignis. Zwar konnten die sanitären Rohre des GEBÄUDES jederzeit platzen und den Gestank seiner Eingeweide freigeben, der dann wochenlang die Atmosphäre sättigen würde; die Informationsübertragung konnte zusammenbrechen, diese Krise würde die Ausstoßung Tausender plötzlich hysterisch werdender Bewohner erforderlich machen; die Wasser- und Sauerstoffversorgung im GEBÄUDE war nie ganz sicher, in unregelmäßigen Abständen fiel sie in ganzen Etagen aus, was finstere Konsequenzen nach sich zog. Aber der Beton blieb unverändert.

Das bewies der Vater auch jeden Tag. Eiserner Griff um meinen Schädel, Stirn mit knappem Schlag gegen den Boden. Da siehst du, ich kann mit einer Hand dein Gehirn zermalmen, aber der Beton widersteht jedem Schlag. Ich, am Boden immobilisiert, stimmte wortlos zu.

Doch jeden Morgen, sobald der stechende Schmerz im Kopf nachließ, drückte ich das Ohr noch fester gegen den Boden. Und hörte sogleich das Murmeln des Betons. Der Widerhall vom Geschrei der Ausgestoßenen, hatte ich zunächst angenommen. Oder auch der Nachhall der Stimmungen von dem Vater her, von der Mutter. Die flache Hand am Boden aber erspürte ein tieferes Dröhnen. Durch die Poren meiner Haut nahm ich eine kontinuierliche Kompression von Materie wahr.

Zunehmende Verdichtung.

Sehr früh hatte ich begriffen, dass Intelligenz dazu da ist, selbstständig herauszufinden, was nicht enthüllt werden soll, und dass ein gut geschärfter Verstand vorrangig dazu dient vorzuspiegeln, dass man das gerade eindeutig Erkannte weder gesucht noch gefunden und schon gar nicht durchschaut hat.

Wenn der Vater mir versicherte, dass es hinter dem Horizont gar nichts mehr gebe, musste ich mir das einprägen und durfte niemals fragen, was dort verschwunden war. Denn der Vater wurde schnell ungeduldig, verzog das Gesicht, Fußtritte. Was es nicht mehr gibt, ist undenkbar, betonte er. Wenn du zu viele Bereiche deines Gehirns zum Un-Denken zwingst, wirst du implodieren, dann muss ich deinen Hirnmatsch ins Klosett pürieren.

Wenn die Mutter im Schlaf brüllte, dass sie sich an den entsetzlichen Augenblick erinnerte, als der Eingang zum GEBÄUDE endgültig versiegelt wurde, dass sie sich an den Beginn des Erstickens erinnerte, die hysterischen Schreie der ersten Bewohner, die versuchten, die Mauer aus TOTALBETON zu durchbohren, um wieder ans Tageslicht zu kommen; wenn der Vater erwiderte, dass das unmöglich sei, weil die Einschließung lange vor der Geburt seines Urvaters im achten Glied stattgefunden habe, dass die Mutter sich sowieso ständig alles zusammenspinne, dass die ersten Bewohner wahrscheinlich erleichtert über den Schutz durch den Beton gewesen seien, gegen die Auswirkungen der Verheerungen, dann musste ich nur zwei oder drei Mal Schlafen abwarten und einfach so tun, als wachte ich mitten in der Nacht auf, meinerseits losbrüllen, dass ich mich an das Gießen des Betons erinnern könne, an die Mischung aus Regen, Blut und unablässig ertönenden Schreien, und schon hatte ich eine Diskussion voll neuer, sonst unzugänglicher Informationen ausgelöst.

Manchmal erklärte die Mutter, das Zellgedächtnis sei doch nicht zu leugnen, es könne also sein, dass eine Reihe von Daten im Chromosomensatz gespeichert sei. Der Vater erwiderte, das sei vollkommen irrsinnig, man müsse doch nur die ungeheure Größe des GEBÄUDES und die Genauigkeit der sozialen Struktur betrachten, um die makellose Planung zu erkennen, auf der unsere Zivilisation gründe, all das sei ganz sicher unter den besten Bedingungen durchdacht und ausgeführt worden.

Der Vater und die Mutter waren sich nie einig über die Ursprünge des GEBÄUDES.

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