1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 »Das Dämonenkind, welches die süße Agnès gefressen hat«, hauchte die dünne Frau nach unendlich langen Minuten. Er hörte sie nicht, starrte sie nur an. Rosa wusste nicht, dass einst Zigeuner der glücklichen jungen Mutter Paquette Chantefleurie das Töchterchen im Säuglingsalter geraubt hatten und ihr stattdessen den vierjährigen Quasimodo mit seinem Buckel, dem ungewöhnlichen Gesicht und der undeutlichen Sprache hinterließen. Sophie, die vor ihrem gewalttätigen Gatten geflohen war und bei den Zigeunern lebte, hatte man währenddessen betäubt. Sie verlor fast den Verstand, als sie ihren Sohn nirgends finden konnte. Dennoch versorgte sie den geraubten Säugling nach besten Kräften und liebte dieses Kind, die kleine Esmeralda, ebenso wie ihr eignes, doch ihre verzweifelte Suche nach Simon gab sie nicht auf, bis sie ihn fünfzehn Jahre danach in Paris wiedersah. Paquette aber verachtete den Knaben und ging nach Paris, um die Zigeunertruppe mit ihrem Töchterchen zu suchen. Was blieb dem Kleinen anderes übrig, als hinter ihr herzutapsen, hoffend, irgendwann seine Mutter wiederzubekommen, die alle Welt Madame Paloma nannte. Kaum in Paris, verlor Paquette den Knaben in der Notre-Dame, fand aber das Töchterchen nirgends und hoffte auf Gottes Gnade, wenn sie als Einsiedlerin in der Klause beim Rolandsturm am Place de Grève Buße tat. Bald nannte man sie Schwester Gudule. Den Seidenschuh, welchen sie selbst aus lauter Liebe genäht hatte, trug sie stets bei sich. Esmeralda aber trug den zweiten als Talisman, nachdem Sophie ihr die ganze tragische Geschichte vom Kindertausch erzählt hatte.
Nun trafen die beiden wieder aufeinander. Für Paquette war es einerseits ein beklemmendes Wiedersehen, andererseits hatte ihr Geist längst gnädigen Nebel über ihre Gedanken gesenkt. Ab und zu ein heller Moment, den sie aber nicht als solchen erkannte. Sonst aber nahm sie alles wie verschwommen wahr, konnte dadurch die ganze Tragik ihres Daseins leichter ertragen. Auch Quasimodo hatte keine klare Erinnerung mehr an die Frau, die ihn nie mochte und nur geweint hatte, als sie mit ihm nach Paris gewandert war. Er hatte sich ja nicht einmal mehr an Sophie erinnert, nur an Dom Frollo. Dieser war seine ganze Welt gewesen, gemeinsam mit der Kathedrale, den Glocken, den Tauben und später auch mit Jean, den er wie einen kleinen Bruder liebte.
Als Sophie mit Enzo den engen Raum betrat, wusste sie den Blick der beiden sofort zu deuten. In all der Aufregung hatte sie diesen Teil des Schicksals ganz vergessen, dass Paquette nämlich Simon nie so lieben konnte, wie sie ihre verlorene Tochter geliebt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde bereute sie es, für diese Frau so viel Aufhebens gemacht zu haben. Doch nun wollte sie sich damit nicht aufhalten. Liebevoll verabschiedete sie sich von Rosa, die den écu d’or nicht annehmen wollte, mit dessen Hilfe sie sich weiter um die Klausnerin kümmern sollte.
»So viel wird das doch niemals kosten«, wehrte sie ab. Da erhob sich die dünne Frau, der es inzwischen besser ging, nahm die goldene Münze und den Umhang, den ihr Rosa geschenkt hatte und sagte: »Paquette begleitet die Reisenden.«
Dann stakste sie grußlos aus der Schenke und wartete in der Morgensonne auf die anderen, denen es zunächst die Sprache verschlagen hatte.
»Das kann sie doch nicht machen, dieses dumme Huhn!«, entfuhr es Rosa endlich.
Sophie nickte fassungslos. Quasimodo ging auch nach draußen, in der Kammer war es ihm zu eng und zu stickig. Er stellte sich neben Paquette und begrüßte Enzo, den er lange nicht mehr gesehen hatte. Die Wiedersehensfreude der beiden schob das Problem wegen der sturen Klausnerin zunächst beiseite. Vor der Schenke versammelten sich Leute, um den Buckligen und die Dünne zu bestaunen. Seit dem Verbot jeglicher Darbietungen durch die Inquisition genügte schon ein sonst kaum beachteter Anlass, um Schaulust zu wecken. Als einer der Umstehenden Quasimodo am Buckel berührte, um zu sehen, ob dieser weich oder hart sei, fasste er Paquette am Arm und eilte mit ihr in eine Seitengasse. Erst als niemand mehr in der Nähe war, blieb er stehen und atmete auf. Die Klausnerin war so überrascht, dass sie nicht einmal schreien konnte, bemerkte dann aber, dass der feste Griff um ihr Handgelenk zu ihrem Schutz geschah. Sie rieb sich das Handgelenk und musterte den riesigen Mann mit dem sanften Auge und der Warze über dem anderen. Da kamen schon Enzo und Sophie herbeigelaufen. Sophie schnappte sich das Holz, welches um Simons Hals hing und schrieb mit Kreide:
›Diese Frau kann nicht mitkommen!‹
Er schrieb darunter:
›Doch, sie will ja.‹
»Schwester Gudule, die Reise wird sehr anstrengend und wir können unterwegs keine dünne Suppe für Euch kochen. Ihr habt nicht genug Kraft für so eine weite Wanderung!«, erklärte Sophie genervt.
»Was Paquette will, kann sie auch«, stellte sich die Klausnerin stur und marschierte los. Simon folgte ihr.
»Halt! Es geht in die andere Richtung!«, rief Enzo.
»Wenn die Frau schwach ist, trage ich sie«, sagte Quasimodo, als Sophie ihm nachlief und zur Raison bringen wollte. Auf seine Worte hin blieb sie abrupt stehen.
»Für diese Frau sprichst du sogar?«, rief sie ihm ins Ohr.
Ihr Tonfall klang mehr gereizt als überrascht. Er nickte nur. Schweigend nahmen sie Seitengassen, mieden größere Plätze und Menschen, so gut es ging. Enzo kannte jeden Winkel dieser Stadt und ging mit Quasimodo voran. Die Häuser, schmutzige Rinnsale, Kinder, die Fangen spielten und geschickt Reitern auswichen, Bettler und Aschesammler, alle hatten ihre Beschäftigung. Es verwirrte Quasimodo, so viele Leute um sich zu erleben. Kinder hüpften um ihn herum, warfen zuweilen sogar kleine Steine auf ihn. Alle starrten ihn an. Als er noch am Turm gelebt hatte, waren Leute kleine wuselige Figuren gewesen, weit weg von ihm. Nun bedrängten ihn ihre Blicke, die Nähe und Gerüche. Die Welt war kein Abenteuer, sie umwickelte ihn wie eine Spinne mit ihrem klebrigen Netz.
Hinter ihm ging Sophie und achtete darauf, dass Paquette Schritt halten konnte und sich nicht zu sehr der Sonne aussetzte, weil sie das ermüdete. Seine Mutter war für Quasimodo das neue Zuhause. Am Stadtrand pflückte Enzo wilde Ranken, flocht daraus mit wenigen Handgriffen einen kranzartigen Hut und setzte ihn Paquette aufs Haupt. Sie nickte zufrieden.
Die Nächte waren so mild, dass sie im Freien übernachten konnten. Sophie erinnerte sich an ihre Zeit bei den Zigeunern und empfand Wehmut, vor allem, weil es die Zeit mit Esmeralda gewesen war. Wie es ihr wohl ergeht? Hat sie einem Knaben oder einem Mädchen das Leben geschenkt? Sophies Sehnsucht nach ihr brannte so sehr wie damals der Drang, der die verzweifelte Suche nach Simon befeuert hatte. Dieser strahlte eine wohltuende Ruhe aus, selbst wenn Kinder in Dörfern schreiend um ihn herumtanzten, schaute er sie mittlerweile bloß gutherzig an. Einmal musste er niesen, als Kinder es wieder einmal allzu bunt trieben. Sie erschraken so sehr, dass sie quietschend davonstoben. Simon lachte laut über sie. Daraufhin kamen sie wieder zurück und lächelten, waren plötzlich sanft wie Lämmer und hörten auf, sich über ihn lustig zu machen. Seitdem gönnte er es sich manchmal, aufgescheuchte Kinder mit einem lauten »Buh!« zu erschrecken, wenn sie allzu wild um ihn herumtanzten oder ihn sogar mit kleinen Steinen bewarfen. Und stets ereignete sich dadurch das gleiche kleine Wunder. Der Bann war gebrochen, sobald sie ihn lächeln sahen, allerdings erst, nachdem sie ihren Spaß gehabt hatten.
Wenn er sonst jemanden anlächelte, erschraken die Leute. Er selbst schien sich nichts mehr daraus zu machen. Menschen waren für ihn wie die Tauben, die kackten ja auch herum, ohne es böse zu meinen. Sophie allerdings litt täglich unter diesen Erfahrungen. Sie atmete auf, wenn sie Wälder und Wiesen durchquerten, wo ihnen kaum jemand begegnete. Paquette war auf der Reise ruhiger geworden. Sie brabbelte kaum noch vor sich hin, steckte ihren Schatz in die Kleidertasche und beobachtete still, was um sie herum vorging. Mittlerweile vertrug sie auch festere Nahrung und mochte vor allem mehlige Rüben, wenn Enzo sie abends am Lagerfeuer kochte. Wenn sie bei unterkellerten Gehöften vorbeikamen, kauften sie manchmal ein wenig von dem Wintervorrat, denn sie mieden Schenken und belebte Dörfer. Enzo und Simon trugen die größten Reisesäcke, weil es darin ein wenig Kochgeschirr, Decken für die Nacht und ein gut eingewickeltes Küchenmesser gab.
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