Ich schalte das Radio aus und richte mich im Sitz auf. Ich habe ihn im Rückspiegel. Ich warte, dass er aufblickt, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich vielleicht nur eine an den Absender zurückgesendete Frau und Taxifahrerin sein mag und die Hand vor diesem und jenem aufhalte, aber - mit den Worten meiner Mutter: “Jeder ist Meister seines eigenen Faches.“
Doch er hebt kein einziges Mal den Kopf, bis wir am Ziel sind, und unsere Blicke treffen sich nicht. Vor einer Gasse mit einem geschlossenen Supermarkt an der Ecke sagt er: “Danke.“
Ich ziehe die Handbremse, um anzuhalten. Wenn er Bescheid weiß, ist ihm klar, was das bedeutet. Eine Geste der Einschüchterung. Ungerührt steigt er mit einem Armvoll Zeitschriften aus. Bei diesem Auftreten war nicht mehr von ihm zu erwarten.
“Wie viel macht das?“
Mein Blick fällt auf die Scheine in seiner Hand. Er hat sie schon vorbereitet. Innerhalb einer tausendstel Sekunde schätze ich die Anzahl ab. Schließlich schreibe ich auf einen imaginären Strafzettel: „Wegen Einmischung in die Angelegenheiten eines verdienstvollen Fahrers fünf Toman Strafgebühr.“
“Zehn Toman.“
Ich warte darauf, dass er protestiert. Er tut es nicht. Durch die Scheibe reicht er mir mit zwei Fingern einen Zehn-Toman-Schein. Seine Finger sind weiß und behaart. Wie Hameds Finger. Ich muss daran denken, heute Abend meine Hände in Whitex zu legen. Ich nehme den Schein. Als er sich zum Gehen wendet, deutet er auf den Gurt.
“Sie haben den Gurt vergessen.“
Er schlendert davon. Ich steige halb aus und klatsche mit der flachen Hand auf das nasse Wagendach.
“Hey Bruder…“
Er dreht sich um. Grüne Augen unter dichten Augenbrauen verleihen ihm das Aussehen eines Wolfes.
“Bist du etwa dafür angestellt, dass du hier herumkommandierst?“
“Verehrte Dame, muss man dafür angestellt sein, um auf etwas aufmerksam zu machen?“
“Es ist nicht nötig, dass du auf was auch immer aufmerksam machst.“
„O.K….O.K. Sorry. Es war falsch, dass ich mir Sorgen um eine Mitbürgerin gemacht habe.“
Er schüttelt verächtlich den Kopf und geht. Als ob ich gleich wie eine Schreckschraube aussähe, nur weil ich nicht super-weiblich bin, wie Frauen eigentlich sein müssen. In den letzten Jahren schüttelte auch Hamed auf diese Art den Kopf. Wenn er zuhause war, fühlte ich mich wie eine Küchenschabe, die klammheimlich aus der Kloschüssel gekrochen ist und das Haus und Leben eines Mannes besudelt hat, der und dessen Familie „Klasse“ höher schätzen als Brot im Kasten. Einmal hörte er bei Tisch zu essen auf und sah mich an. Er fragte:
“Ist jemand hinter dir her?“
Ich antwortete: “Nein. Wieso?“
“Warum nimmst du dann so große Bissen?“
Das Essen blieb mir im Halse stecken. Ich hatte das Gefühl, dass ich gleich an meinem Bissen ersticken würde. Ich schlug mit dem Löffel auf den Tisch: “Du tust so, als ob wir uns erst seit heute kennen würden. Ich weiß genau, wo dich der Schuh drückt. Meine großen Bissen sind es nicht. Das sind nur Vorwände…“
Den nächsten Bissen nahm ich noch größer, und er fing kopfschüttelnd wieder an zu essen.
Der Regen rinnt mir wie Tränen über das Gesicht. Und über zwei Haarsträhnen, die aus meinem Schlupfkopftuch herausgucken. Ich sehe dem Mann nach. Er entfernt sich, und ich versäume die Gelegenheit, ihm seine Verachtung heimzuzahlen. Er geht fort, und ich bleibe stehen und werde nass. Ich hebe das Gesicht zum Himmel. Dicke Regentropfen fallen mir auf Wangen, Lippen und Wimpern. Wie lange ist es her, dass ich im Regen gelaufen bin? Wie viele Jahre? Wie viele Jahrhunderte? Das letzte Mal war vielleicht mit Babak, als wir im Regen nach Taqe Bostan liefen. Er fühlte sich erwachsen. Dabei war er noch nicht einmal fünfzehn, aber schon groß für sein Alter. Mit einem Benehmen wie ein dreißigjähriger Mann. Er sagte: “Zieh einen Tschador über, ich will dich ausführen.“
Ich erwiderte: “Ich komme mit, aber in Hosen und Hemdbluse. Wenn du mich so mitnimmst, gut, wenn nicht, mach was du willst…“
Er meinte: “Mädchen, dort treiben sich Proleten herum, willst du, dass Blut fließt?“ Ich musterte ihn von oben bis unten und fing an zu lachen. Er wurde verlegen. Und sagte dann: “Zieh ein Kopftuch an, damit ich dich ausführe…“
Der Mann verschwindet in der Gasse. Ich kehre zum Wagen zurück, setze mich und lausche dem Prasseln des Regens auf das Dach und dem Quietschen der Scheibenwischer. Ich werfe einen Blick auf die Gurthalterung. Wollte er den Macho spielen oder war er wirklich um mich besorgt? Wie kann es sein, dass Menschen, die einander nicht kennen, umeinander besorgt sind? Wie kommt es, dass alle meine Bemühungen, Hamed zu vergessen, immer wieder scheitern und sogar das Kopfschütteln eines Fahrgastes mich an ihn erinnert? Vielleicht verleihen ihm gerade diese Bemühungen, mich nicht an ihn zu erinnern, solche Macht? Dass er ständig durch meine Gedanken geistert, um mich daran zu erinnern, dass er mich wie eine Kakerlake, die aus dem Abtritt kriecht, zertreten hat. Vielleicht hat er sich für das Missverständnis am Tag der Brautwerbung gerächt. Damals hatte ich allen Bemühungen meiner Mutter zum Trotz keinen Tschador angezogen, sondern den Tee in Hemdbluse und Hose serviert. Mein Vater musterte mich beim Eintreten von Kopf bis Fuß, ob etwa, wenn auch nur der kleinste Millimeter, nackte Haut sichtbar wäre. Als er sah, dass alles vollständig bedeckt war, fuhr er fort, seine Banane zu schälen. Hamed lächelte. Seine Mutter sagte: “Wie entzückend, komm, setz dich neben mich, Fräulein Braut…“ Und sein Vater meinte: “Was für ein großartiges Mädchen…“ Am nächsten Morgen um sieben, als ich zum Volleyball-Training wollte, sah ich, dass der Sheykh-Hadi-Platz, die Moschee und die Bäume unseres Viertels schneebedeckt waren. Ich wartete auf ein Taxi, als Babak in einem grünen Fiat vor mir hielt. Er kurbelte die Scheibe herunter und sagte: “Steig ein.“
Ich fragte ihn: “Was soll das?“
Er antwortete: “Das wirst du gleich erfahren. Steig ein.“
Ich dachte: “Wenn ich nicht einsteige, ziehe ich den Kürzeren.“ Bisher hatte ich ihm gegenüber nie den Kürzeren gezogen. Ich stieg also ein.
Babak fuhr von der schneebedeckten Straße auf die Stadtautobahn Richtung Sarab, wobei ihm ständig die Reifen durchdrehten. Dort bog er in eine Seitenstraße ein und stellte vor einem schneebedeckten Garten den Motor ab. Aufgeschreckt flogen Krähen von den Zweigen der kahlen Bäume. Eine kam näher und blieb wenige Meter entfernt sitzen. Babak sagte: “Genau hier kann ich den Lebensunterhalt für dich verdienen, Shohre.“
Die Krähe pickte in den Schnee. Ich spottete: “Tu das. Du bist ja Meister im Lebensunterhalt-Verdienen.“ Er erwiderte: “Gut, wenn du weißt, dass ich kein Erbarmen kenne, wenn mir jemand in die Quere kommt.“
Ich höhnte: “Schade, Babak. Sonst müsstest du mich jetzt nicht anflehen.“
Babak gab zurück: “Bei Gott, ich flehe niemanden an. Was mir gehört, gehört mir.“
Ich fragte: “Wo hast du deinen Benzinkanister gelassen? Das ist doch deine Art, die Dinge anzugehen.“
Er entgegnete: “Verzapf keinen Blödsinn. Wer ist dieser Esel, der es gewagt hat, um deine Hand anzuhalten?“
Ich sagte: “Der Bruder von Mahtab. Meiner Klassenkameradin.“
Er fragte: „Wer hat erlaubt, dass sie den Fuss in euer Haus setzen?“
“Papa.“
Er darauf: “Keiner hätte dich zwingen können, wenn du nicht gewollt hättest.“
Er hatte recht. Im Gegensatz zu Mutter, die sich fast umbrachte, damit ich Babaks Frau wurde, stand Vater auf meiner Seite. Als ich sagte, ich würde Babak nicht heiraten, starrte er auf seine Zigarettenspitze und meinte: “Es ist dein Leben. Du musst darüber entscheiden…“
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