Einige Meter vor mir hebt ein Mann im Anzug, etwa Mitte Dreißig, die Hand. Im Nu bin ich hellwach. Er ist hochgewachsen. Seine Brust- und Nackenmuskeln zeichnen sich ab. Und das am Ende eines Vormittags. Ich trete auf die Bremse. Nur großzügige Fahrgäste heben die Hand. Diejenigen, die ihr Fahrtziel rufen, machen manchmal einen
Aufstand wegen hundert Ein-Toman-Scheinen. Dann musst du entweder auf dein Recht verzichten oder du musst das Taxometer einschalten. Der Mann klappt seinen Regenschirm zusammen und steigt hinten ein. Der Duft seines Rasierwassers und die Kälte von draußen verbreiten sich im Wageninneren.
“Einzelfahrt zum Zweiundzwanzigsten Bahman.“
Zwischen dem Viertel Zweiundzwanzigster Bahman und Shahnaz, wo ich wohne, liegt eine ganze Erdumdrehung. Dort sind die Wohnstraßen breit, baumbestanden und es gibt viele Parkplätze. Hier dagegen sind die sie eng und voller aufgeplatzter Müllsäcke und langlebiger Katzen. Ich lebe im fünften Stock eines Wohnblocks, der mitten zwischen vierzig Jahre alten Häusern steht. Fünfzig-, Siebzig-Quadratmeter-Wohnungen und... Man weiß nicht, wie viele Häuser sie zusammengeflickt haben, um unseren Wohnblock zu bauen. Ich drehe das Radio auf. „... Vielleicht möchte jemand, der die Abgeschiedenheit freiwillig gewählt hat, gar nicht aus ihren Fesseln befreit werden. So definiert sich die Freiheit immer in Bezug auf etwas oder eine Situation...“ Der Mann ist über die Zeitschriften in seiner Hand gebeugt. Auf seinen Füßen liegt eine, eine Sportzeitschrift, soviel ich sehen kann. Mit einer Hand blättert er, mit der anderen kratzt er seinen Professorenbart. Ich mag Professorenbärte. Sie verleihen ihrem Träger Würde und einen Anstrich von Bildung. Hamed pflegte zu sagen: Ein Professorenbart steht Dicken mit Doppelkinn.
Einmal kam ich zu seinem Laden. Sorgsam ausrasierter Bart, glänzendes Haar und große, braune Augen mit langen Wimpern, die Schatten auf seine Wangen warfen, so stand er inmitten von Frauen. Jede wollte etwas. Jede hatte eine Frage. Eine sagte: “Herr Hamed, ich habe meinem Friseur das Haselnussbraun gegeben. Er hat gesagt, dass mir die Farbe nicht steht, ich soll sie nicht nehmen!“
Hamed verpackte eine Eau de Cologne-Schachtel und antwortete „Nimm sie nur, falls sie dir nicht steht, geht das auf mich…“
Eine andere fragte: “Herr Hamed, haben sie etwas gegen Schuppen?“
Hamed schloss den Deckel des Rouges auf der Vitrine.
“Da habe ich etwas. Das ist super. Im Regal hinter Ihnen…“ Wieder eine andere erkundigte sich: „Habt ihr nur diese Nagellack-Farben?“
„Aber nein. Geh mal in die Hocke. Im untersten Fach sind alle Farben, die es gibt.“
Rechts neben mir bückte sich eine Frau und nahm die Schachtel mit den Schminkstiften aus dem Regal.
Ich sagte: “Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich möchte eine Feuchtigkeitscreme für die Hände.“
„Im Regal... Ach, was machst du denn hier?“
Ich fühlte, dass ich ihn mit meinen schwarzen Händen, dem zerknitterten Mantel und den unordentlichen Haaren, die unter dem Schlupfkopftuch hervorlugten, in Verlegenheit brachte. Weil das Lächeln von seinen Lippen wich. Die Frau, die die Schachteln herauszog, drehte sich um und sah mich an, und ich erkannte sie an ihren Kontaktlinsen. Ich wiederholte: „Ich möchte eine Creme.“
Hamed erwiderte: “Ich hab’ zu tun. In der Vitrine. Nimm sie dir selbst.“
Er hätte sagen können: “Geh nach Hause, ich bringe sie dir heute Abend mit“ oder “Warum hast du heute morgen nichts gesagt?“ oder... Außer dem ersten Satz, der ihm entschlüpft war, zeigte er keinerlei Anzeichen von Bekanntschaft. Ich fühlte, dass seine Hände leicht zitterten. Ich fühlte die glänzenden dunkelblauen Linsen auf mir ruhen. Ich fühlte...
Ich drehe das Radio auf. „Die Freiheitsliebe hat ihre Wurzeln in den Veränderungen, die das europäische Denken in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat. In der Enzyklopädie...“
Am Naft-Platz, neben dem Zeitungskiosk ruft eine Frau mit einem Mädchen an der Hand unter dem prasselnden Rege „Garage?“
Ich fahre an ihnen vorbei. Der Mann sagt: “Halten Sie ruhig. Bringen Sie zuerst die Dame ans Ziel.“
Nichts lieber als das. Ich trete auf die Bremse. Die Frau zieht das Mädchen an der Hand und öffnet die Hintertür. Der Mann rückt nicht wie andere Fahrgäste zur Seite, um nur ja nicht nass zu werden, sondern nimmt das Mädchen bei der Hand und hilft ihr, schneller einzusteigen. Ich sehe sie durch den Rückspiegel an. Als ob sie einem aufgewühlten Fluss entstiegen wären. Ich drehe die Heizung auf. Als wir weiterfahren, holt der Mann aus seiner Tasche in Goldpapier gewickelte Schokolade und gibt sie dem Kind.
“Chocolate wärmt. Iss, Kleine.“
Das Mädchen grapscht nach der Schokolade. Seine Mutter sagt: “Danke, Bruder.“
Man hört das Schokoladenpapier rascheln. Im Gesicht des Mannes spiegelt sich Zufriedenheit und in dem des Mädchen Hochgenuss vom Biss in die Schokolade. An der Ershad-Kreuzung sehe ich mich um. Keine Spur von Fariba, wo mag sie jetzt sein? Was macht sie wohl?
Am Azadi-Platz steigt die Frau aus. Ich nehme die Orange vom Armaturenbrett und halte sie dem Mädchen hin. Sie fällt mir aus der Hand unter den Rücksitz. Der Mann bückt sich und findet sie.
“Hier, Honey. Hau rein und genieß ein bisschen Vitamin C.“ Bevor ich einerseits das „Honey“ und andererseits das „Hau rein“ verdaut habe, lacht das Mädchen schon und zeigt dem Mann ihre Zahnlücke. Der Mann lächelt zurück. Unwillkürlich muss auch ich lächeln. Nicht in Richtung des Mädchens, sondern des Mannes, der in meiner Phantasie zum smarten Supermann wird, der mich im Spiegel anlacht. Und ich weiß nicht, warum ich in genau diesem Moment fühle, dass ich mich vor gut aussehenden Männern fürchte. Vielleicht, weil auch Hamed gut aussah und sehr auf sich hielt, und weil ich allmählich herausfand, wie schnell ihn Gleichförmigkeit langweilte. Eines Morgens hatte ich das Gefühl, ich wäre soeben aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht, an einem fremden Ort. Der Duft von Hameds Nivea-After-Shave war neu für mich. Die Möbel kamen mir bedrückend fremd vor. Auch die frohe Farbe von Hameds T-Shirt und seine cremefarbene Slash-Hose waren mir fremd. Ich fühlte, dass ich weder ihn kannte, noch diese Wohnung. Ich starrte ihn an. Ich dachte, er müsse fragen, warum ich ihn so ansähe. Aber das tat er nicht, sondern verabschiedete sich und ging, ohne auf meine Antwort zu warten. Während er auf dem Weg zum Laden war, starrte ich einige Minuten im bedrückenden Schweigen der Wohnung auf einen Punkt und fragte mich, warum Hamed mir Abend für Abend um Punkt zehn Uhr eigenhändig meine Antibabypille brachte und sie mich schlucken ließ? Warum bedurfte es zum Einschalten seines Handys tausender Kniffe und PIN-Codes wie bei den Schließfächern der Zentralbank? Warum sah er ständig auf die Uhr, wenn er zuhause war, wann es Schlafenszeit war oder Zeit, in den Laden zu gehen? Warum wurde ich nicht Taxifahrerin, sondern vergeudete mein Talent mit dem Kochen zementartiger Ghorme Sabzi oder dem Scheuern von Flecken auf dem Gasherd?
Wir umrunden den Platz. Im Wagen mischt sich eine angenehme Wärme mit dem Rasierwasserduft des Mannes. Ich trete aufs Gas, um ihn so schnell wie möglich ans Ziel zu bringen. Ich lasse die Abzweigung des Zweiundzwanzigsten Bahman hinter mir. Fahre durch eine Pfütze. Wasser spritzt auf die Scheiben. Der Mann hebt den Kopf.
“Halten Sie vor dem Internet-Café.“
Ich zeige ihm die Uhr auf dem Armaturenbrett.
“Bruder, es ist zwei Uhr nachmittags. Jetzt ist nirgendwo geöffnet.“
“O.K. Dann fahren Sie langsam. Und schnallen Sie sich an.“
Und wieder vertieft er sich in seine Zeitschriften. In meinem Hirn haben sich zwei Drähte kurzgeschlossen. Wenn der Typ wüsste, was der Befehlston eines Mannes bei mir verursacht, hätte er sich sicher auf die Zunge gebissen und mich mit dem positiven Bild von ihm weiterfahren lassen. Vereinzelt hatte ich zwar schon ängstliche Fahrgäste, die wollten, dass ich langsam fahre. Aber als Verkehrspolizist hat sich bis jetzt noch keiner aufgespielt.
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