Als Adressaten einer Ingewahrsamnahme kommen nur die Personen in Betracht, die in den jeweiligen Gewahrsamsgründen näher umschrieben sind; ein Rückgriff auf die allgemeinen Störervorschriften ist wegen Spezialregelung nicht erforderlich. Im Falle des Unterbindungsgewahrsams ist es jedenfalls erforderlich, dass die angenommene Gefahr der Verwirklichung von Tatbeständen strafbewehrter Normen der in Gewahrsam zu nehmenden Person als Störung individuell zuzurechnen ist. 39 Die Ingewahrsamnahme kommt demgemäß nur in Betracht, um die betroffene Person selbst an der Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr zu hindern. 40
Die Gewahrsamnahme ist geeignet und erforderlich. Die Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Die Beurteilung setzt eine Abwägungvoraus, d. h. das eingeschränkte Grundrecht darf objektiv nicht höher einzustufen sein als das Recht, das geschützt werden soll. Eingeschränkt wird durch die Maßnahmen die körperliche Bewegungsfreiheit des Z (Freiheitsentziehung). Andererseits wird dadurch die Rechtsordnung geschützt. Der Schutz der Rechtsordnung, die das Zusammenleben im Staat ermöglicht, hat zudem einen erheblichen Stellenwert. Eine Abwägung führt daher nicht zu einem Missverhältnis, d. h. die Maßnahme steht nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck und ist rechtmäßig.
Parallelnormen zu §§ 35 ff. PolG NRW (Gewahrsam, Verfahren):§ 39 BPolG, § 57 BKAG, § 28 BWPolG; Art. 17 ff. BayPAG; §§ 30 ff. ASOG Bln; §§ 17 ff. BbgPolG; §§ 15 ff. BremPolG; §§ 13 ff. HambSOG; §§ 32 ff. HSOG; §§ 55 f. MVSOG; §§ 18 ff. NdsSOG; §§ 14 ff. RhPfPOG; §§ 13 ff. SPolG; § 22 SächsPolG; §§ 37 ff. LSASOG; §§ 204 f. SchlHVwG
E. Zwang (Durchsetzung Gewahrsam)
I. Ermächtigung
Z wird daraufhin von den Beamten kräftig an den Armen gepackt und in den Streifenwagen gezerrt. Bei solchen Handlungen kann nicht mehr von einer sog. Durchführungshandlung gesprochen werden.
Es wird die Auffassung vertreten, dass Verwaltungsakte auch solche Standardmaßnahmen sind, die man als Ausführungsermächtigung bezeichnet. Nach hier vertretender Auffassung ermächtigen Ausführungsermächtigungen zum Realakt der Ausführung, indes begleitet von einem befehlenden Verwaltungsakt, der dem Betroffenen die Mitwirkung an der Ausführung, mindestens aber deren Duldung aufgibt. 41 Sofern Widerstand durch unmittelbaren Zwang als Zwangsmittel gebrochen werden muss, so ist dies nur auf der Grundlage eines Verwaltungsaktes zulässig. So wird etwa für Gewahrsam, Durchsuchung, Sicherstellung und ED-Behandlung daran festgehalten, dass es sich um Verwaltungsakte handelt, die jeweils einheitlich angeordnet werden und Duldungs- sowie einzelne Mitwirkungspflichten erzeugen. 42 Bei diesen Maßnahmen ist eine (meist auf eine Duldung der Vollziehungshandlung gerichtete) Regelung mit einer tatsächlichen Ausführungshandlung (= Vollziehung) gekoppelt, bei der es sich, (nur) isoliert betrachtet, um einen Realakt handelt. 43
Wenn eine Grundmaßnahme zwangsweise durchgesetzt wird, liegt eine Erweiterung des Ursprungseingriffsvor, mithin ein eigener zwangsbedingter Eingriffsgehalt. Die polizeiliche Zwangsanwendung geht in ihrer Wirkung über den Eingriffsgehalt der Grundmaßnahme regelmäßig hinaus. Dabei wird in der „mildesten Form“ nur die Handlungsfreiheit des Betroffenen weiter eingeschränkt, als es bei Erfüllung der polizeilichen Forderung der Fall gewesen wäre. Zwang ist mithin eine Rechtsfolgengestaltung, die über die Rechtsfolgen der Grundmaßnahme hinausgeht und von ihr nicht erfasst wird. Die Maßnahme stellt sich als Verwaltungszwang dar, denn die Beamten gehen gegen den Z mit körperlicher Gewalt vor (unmittelbarer Zwang in Form der körperlichen Gewalt; vgl. § 58 Abs. 1, Abs. 2 PolG NRW).
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Es ist von einer gefahrenabwehrenden Zielsetzung auszugehen; strafverfolgende Aspekte sind nicht ersichtlich. Mit der Maßnahme soll die Ingewahrsamnahme (§ 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW) durchgesetzt werden.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
Zu prüfen ist § 50 Abs. 1 PolG NRW (Zwangsanwendung durch Durchsetzung eines erlassenen Verwaltungsaktes; sog. gestrecktes Verfahren).
1. Zulässigkeit des Zwangs (§ 50 Abs. 1 PolG NRW)
Gem. § 50 Abs. 1 PolG NRW kann ein Verwaltungsakt, der auf die Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, wenn er unanfechtbar ist oder wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Der nach § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehene Suspensiveffekt (§ 80 Abs. 1 VwGO) entfällt nach § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, wenn es sich um unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten handelt. Es handelt sich hier um eine unaufschiebbare Maßnahme zur Gefahrenabwehr, sie ist sofort vollziehbar, da gem. § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung förmlicher Rechtsbehelfe entfällt. Die Voraussetzungen des sog. gestreckten Zwangsverfahrens nach § 50 Abs. 1 PolG NRW liegen vor.
2. Zulässigkeit des Zwangsmittels
In Betracht kommt vorliegend der unmittelbare Zwang (§ 55 PolG NRW). Die Voraussetzungen der (Vollstreckungs-)Ermächtigung (§ 55 PolG NRW) liegen vor. Die Polizei durfte somit das Zwangsmittel des unmittelbaren Zwanges anwenden. Nach § 55 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW gelten für die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges die §§ 57 ff. PolG NRW. Ist die Polizei nach diesem Gesetz (PolG NRW) oder anderen Rechtsvorschriften zur Anwendung unmittelbaren Zwanges befugt, gelten für die Art und Weise der Anwendung die §§ 58 bis 66 und, soweit sich aus diesen nichts Abweichendes ergibt, die übrigen Vorschriften dieses Gesetzes (§ 57 Abs. 1 PolG NRW).
3. Art und Weise des (Verwaltungs-)Zwanges
Mangels entsprechender Hinweise im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass alle Verfahrensvorschriften beachtet wurden, und zwar insbesondere hinsichtlich der Androhung des unmittelbaren Zwanges (§§ 51 Abs. 2, 56 Abs. 1, 61 Abs. 1 PolG NRW).
4. Allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
An der objektiven Zwecktauglichkeit der (Zwangs-)Maßnahme bestehen keine Zweifel, sie ist somit geeignet. Auch hinsichtlich der Erforderlichkeit bestehen keine Bedenken. Eine Verfügung wurde nicht befolgt. Die Zwangsanwendung war fraglos auch verhältnismäßig, denn die geringe Zwangsanwendung auf den Betroffenen (Z) steht in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der Maßnahme. Die zwangsweise Durchsetzung der Gewahrsamnahme war rechtmäßig.
1 Braun StaatsR, S. 79; Braun PSP 3/2017, 37 (38); Schenke POR, Rn. 132. — 2 Tegtmeyer/Vahle PolG NRW; § 34, Rn. 1; Kay/Böcking PolR NRW, Rn. 234. — 3 Petersen-Thrö apf 2008, 370 (371). — 4 Braun StaatsR, S. 61. — 5Statt vieler: Merten DPolBl. 3/2003, 2. — 6Vertiefend: Beaucamp JA 2009, 279 ff. — 7Omnibusse des Linienverkehrs fallen unter die zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmten Räume i. S. des § 123 Abs. 1 StGB, Hartmann , in: DDKR, § 123 StGB Rn. 11. — 8 Chemnitz PolR NRW, § 4 Rn. 8.3.1 ( Unmittelbarkeitstheorie).— 9 DWVM Gefahrenabwehr , S. 392. — 10Im Überblick zum Zwang Wälter , Prüfungsschema: Rechtmäßigkeit der zwangsweisen Durchsetzung einer polizeilichen Maßnahme, Beilage PSP 4/2019. — 11Der sofortige Vollzug darf nicht mit der sog. sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) verwechselt werden. Die sofortige Vollziehung setzt immer einen bereits erlassenen Verwaltungsakt voraus. Die Anordnung erfolgt in diesen Fällen, damit Rechtsbehelfe und Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung haben; ergänzend: Sadler Die Polizei 2005, 185. — 12von Blohn/Schucht POR, S. 31. — 13 Haurand POR, S. 161. — 14Vertiefend: Vahle Kriminalistik 1994, 360 ff. — 15Näher dazu Gusy PolR, Rn. 436 ff. — 16 Buschmann/Schiller NWVBl. 2007, 249 (251). — 17 Schmitt/Kammler NRWVBl. 1995, 166. — 18 WHM POR NRW, Rn. 195. — 19 Gusy PolR, Rn. 183. — 20Ausführlich: Brühl JuS 1997, 926 ff.; 1021 ff. und JuS 1998, 65 ff. — 21 Knemeyer POR, Rn. 277 ff. — 22 Tetsch ER Bd. 2, S. 267 ff. — 23 Kay/Böcking PolR NRW, Rn. 359. — 24 Gornig/Jahn PolR, S. 76 (80)., m. w. N. — 25 Erbguth apf 2008, 106 (108). — 26BVerwG NJW 1984, 2591; BVerfG NVwZ 1999, 291. — 27 Koehl Polizei-heute 2008, 168 (173): So kann z. B. die Auflösung einer Versammlung (und die Entfernungspflicht der Versammlungsteilnehmer) erst nachträglich auf ihre Rechtswidrigkeit hin untersucht werden. Ein Widersetzen der Teilnehmer – gerade bei einer rechtswidrigen Auflösungsverfügung – macht den Einsatz polizeilicher Zwangsmittel nicht grundsätzlich unzulässig (BVerfG, NVwZ 1999, 291). — 28BVerfG NVwZ 1999, 290 (292). — 29Vertiefend: P-TRE PolR Sachsen, S. 211 f. — 30Am 1. 11. 2007 ist in Nordrhein-Westfalen das sog. BürokratieabbaugesetzII in Kraft getreten. Es soll den Bürgerinnen und Bürgern schneller als bislang zu ihrem Recht verhelfen. Hierzu wird die Statthaftigkeit des Widerspruchsverfahrens auf wenige Fälle reduziert und der Devolutiveffekt weitgehend eingeschränkt; näher dazu Theisen NRW, DVP 2008, 63 ff.; Holzner DÖV 2008, 217; Beaucamp/Ringemuth DVBl 2008, 426; Kamp NRWVBl. 200841 ff.; Kallerhof NRWVBl. 2008, 334. — 31„Übrige Vorschriften des Gesetzes“ sind (wohl) die allgemeinen Bestimmungen des PolG NRW, so beispielsweise § 2 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit), § 3 (Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens) und die §§ 4 bis 6 (Adressatenregelungen). — 32Die Androhung kann mit dem Grundverwaltungsakt verbunden werden. Sie soll mit ihm verbunden werden, wenn ein Rechtsmittel, wie bei polizeilichen Verwaltungsakten regelmäßig der Fall (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), keine aufschiebende Wirkung hat, Rachor/Graulich , in: Lisken/Denninger HdB PolR, Kap. E Rn. 890. — 33 P-TRE PolR Sachsen, S. 209. — 34OVG Münster NJW 1980, 138. — 35BayObLG NVwZ 1999, 106. — 36OVG Bremen NordÖR 2000, 109; dazu auch Haase NVwZ 2001, 164; Geißler/Subatzus NVwZ 1998, 711. — 37OLG Hamm NVwZ-RR 2008, 321. — 38LT-Drs. 17/2352, S. 1. — 39OVG Bremen NVwZ 2001, 221. — 40 Basteck , in: BeckOK POR NRW, § 35 PolG, Rn. 41. — 41 Kingreen/Poscher POR, § 11 Rn. 10. — 42 Götz/Geis POR, § 12, Rn. 5; Schenke , Rn. 115. — 43 Schenke POR, Rn. 115.
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