Da knallte plötzlich eine ganze Musketensalve, hallte schrecklich laut durch den Wald. Sie kam aus der Richtung, in der ich unseren Kampftrupp vermutete. Wir hörten Schreie und Kampfeslärm, das Klirren von Waffen und sahen nun auch den Rauch der Musketen zwischen den Bäumen aufsteigen. Wir machten einen weiten Bogen, pressierten nun wieder, wollten wir doch den anderen zur Hilfe kommen. Doch kaum hatten wir die Richtung gewechselt zu den Unseren hin, entdeckten wir die ersten Gestalten durch den Wald rennen. Feinde waren es und nicht nur ein paar. Wir warfen uns zu Boden, schlichen unter ein Gestrüpp und spähten durch die Äste. Mit einem Male wimmelte es nur so vom Gegenteil, stoben sie hier und dort um die Bäume. Bewaffnete überall, und schon das Wenige, was ich sah, machte mir klar, dass sie uns an Zahl weit überlegen waren. Das Lärmen und Schreien nahm zu, und ich wollte weiterschleichen, konnte der Kampf nicht weit entfernt sein, doch Richard packte mich, sah mir eindringlich in die Augen und sagte: ’ S hat keinen Zweck, müssen weg, es sind zu viele! Ich haderte, die Freunde im Stich zu lassen, sah aber gleichfalls keine Möglichkeit, unbeschadet zu ihnen zu gelangen, daher wir kehrtmachten und weg vom Geschehen uns davon machten, nicht ohne Scham, wie ich dir gern gestehe, lieber Leser.
Nachdem wir uns einiges Wegstück entfernt, die Kampfgeräusche kaum mehr zu hören waren, tat sich vor uns ein niedriger Hang auf, den wir leise hinabschlitterten. Kaum wieder erhoben, kaum ein paar Schritte gegangen, da tauchte ein Mann zu meiner Rechten auf. Ganz alleine stand er da, war offenbar von unserem Auftauchen so erschrocken wie ich von seinem und sollte sich vom Schrecken nimmermehr erholen, denn kaum hatte ich ihn bemerkt, hatte ich schon meine Armbrust abgedrückt. Hatte weder gezielt noch groß was dabei gedacht, hatte einfach abgedrückt. Der Bolzen traf ihn mittig in die Brust und warf ihn nach hinten um. Ich ging auf ihn zu, sah von oben herab in sein Gesicht, die großen Augen, der offene Mund. Nur wenige Jahre älter als ich dürfte er gewesen sein. Was hatte ihn nur dort hingeführt? Was hatte unsere Wege kreuzen lassen? Törichte Fragen! Mach fertig, mach fertig! , zischte Richard mir zu: Schnell! Ich zog mein Messer und kniete zu ihm, da drückte er sich mit den Beinen unbeholfen ab und rutschte über den Boden, als könne er so entkommen. Ich setzte ihm nach, setzte mich auf ihn. Er wehrte sich mit den Armen, versuchte mich von sich zu halten, doch war das Leben ihn bereits am Verlassen und kaum Kraft zur Wehr brachte er noch zustande. Ich drückte die Arme beiseite, war direkt über ihm, da stieß er einen letzten verzweifelten Schrei aus. Nicht laut, aber laut genug. Ich stieß zu, in seinen Hals. So nah war ich bei ihm, dass ich seinen Atem roch, sah in sein Gesicht, ganz nah, sah, wie es zu Ende ging.
Dies war der erste Mann, den ich je tötete, und noch heute sehe ich sein Antlitz vor mir. Viele Männer habe ich seither getötet, so viele, dass ich mich kaum der Hälfte erinnern kann, noch weiß, wie viele insgesamt. In aller Deutlichkeit hab ich nur den Ersten und den Letzten vor Augen. Beim Ersten reute es mich, beim Letzten nicht. Ist es nicht seltsam, dass gleiche Prinzipia für so vielerlei gilt, dass man des Anfangs und des Endes so deutlich gewahr ist, das Dazwischene aber zu verschwimmen neigt, als wären Anfang und Ende von größerer Bedeutung, wo doch das Zwischendrin die meiste Zeit verschlingt, die höheren Zahlen stellt?
Richard packte mich jedenfalls und zog mich hoch auf die Beine, war ich von meiner Tat noch ganz durcheinander, und drängte mich weiter. Just in jenem Augenblick, als ich wieder ein wenig zu Sinnen kam, erblickte ich hinter ihm einen Mann aus dem Geäst springen und auf uns zustürmen. Obacht! , schrie ich zur Warnung. Richard sah es und schrie: Lauf! Wir rannten los. Hatten kaum ein paar Schritte getan, da sah ich noch zwei weitere Männer rechterseits zwischen dem Geäst, die versuchten, uns den Weg abzuschneiden, weshalb wir nach links auswichen und sie bald alle drei dicht hinter uns hatten. Ich hörte das Trampeln und Schnaufen der Schergen, wusste, dass sie nahe waren. Richard war ein wenig hinter mich zurückgefallen, was ich, ohne mich umzusehen, allein am Geräusch erkannte. Schnell wie ein Hase konnte ich damals zwischen Gebäum und Geäst hindurchsausen, hatte den sichersten Tritt auf laub- und wurzelbedecktem Grund. Meine Zeit im Walde hatte es mich gelehrt, und die unzähligen Jagdausflüge mit den Brüdern Linz hatten es zur Meisterschaft ausgebildet. Richard allerdings war kein Jäger. Ich hörte seinen kurzen, erschreckten Ruf, als er stolperte, sah über die Schulter, sah ihn sich vom Boden wieder aufrappeln und blieb sogar kurz stehen. Da waren sie schon über ihm. Der Schrei, den er nun ausstieß, war sein Todesschrei, hatte ihm einer unserer Verfolger eine Pike in den Rücken gerammt. Ich wartete nicht, was weiter geschah, wandte mich ab und rannte, was ich konnte. Der arme Richard! Eine fröhliche Auferstehung sei ihm hier gewünscht!
Ich weiß nicht, wann die Kerle aufgaben, wahrscheinlich lange bevor ich wagte anzuhalten und mich umzusehen. Am Rand des Waldes befand ich mich, sah durch wenige Bäume ein weites, freies Feld. Auf der Flucht hatte ich nicht auf meine Richtung geachtet, versuchte deshalb, mich nun neu zu orientieren, und lief einige Fuß auf das Feld hinaus. Leicht abschüssig verlief es und fingerlange Weizenhalme bedeckten den Boden. Ich sah den Hohentwiel geradeaus, den Hohenkrähen linkerseits, somit hatte mein Instinkt mich gut gelenkt, musste ich ein gutes Stück östlich des Ortes des Geschehens sein. Wir hatten einen Treffpunkt bestimmt, so jemand verloren ging, dort wollte ich hin.
Den Waldrand entlang hielt ich mich, geduckt und mit gespitzten Ohren. Die Musketenschüsse hatten aufgehört, und weit und breit sah ich weder Pferd noch Mensch. Ungeschoren kam ich zu der toten, alten Eiche, die als Treffpunkt auserkoren. Geduckt schlich ich um ein Gestrüpp, das den alten Baum südwärts flankiert. Da hörte ich das Flüstern. Eine Frauenstimme! Die Witwe, wie ich zu erkennen glaubte, machte mich daher bemerkbar. Schon stürzte mir eine Gruppe der Unseren entgegen, die sich in einer Mulde zur Lauer gelegt, die Witwe und Bastian darunter, zu meiner Freude und Erleichterung. Die Witwe umarmte mich und gab mir einen zarten Backenkuss, derweil ich im Hintergrund den Egon hörte: Der Kleine hat’s geschafft, Dank dem Herrn! Ich wurde kräftig getätschelt und auf die Schulter geklopft. Schurken waren wir freilich, aber Kameraden nun mal auch, und ich sah die Freude meiner Freunde, dass ich nicht auf der Strecke geblieben, gleichfalls den Verdruss und die Sorge, dass so wenige der Unseren da waren. Nur achte standen um mich rum, nebst den drei Genannten noch die Gebrüder Linz, der Amon, Jakob Maier und Friedrich Strohwerk. Richard sei tot, sagte ich, erzählte, was uns widerfahren. Mein Kinn begann zu beben, und Wasser füllte die Augen. Kalt und zielstrebig war ich zuvor gewesen, hatte den Kummer nicht aufkommen lassen, ja, ihn nicht einmal gespürt. Nun erst, mit der anderen Antlitze vor mir, durchfuhr mich das Erlebte. Nix dazu kannst, mein Junge! , tröstete mich Egon: Viele sind auf der Strecke geblieben.
Ich lauschte ihren Berichten, erzählten sie von unzähligen Schergen, die unvermittelt aufgetaucht seien, sie umstellt hatten von allen Seiten. Eine ganze Hundertschaft müsse es gewesen sein, der ganze Wald habe von ihnen gewimmelt. Diesen und jenen habe es erwischt, zählten sie auf. So viele Namen! Der Hauptmann? , frug ich, worauf sie die Köpfe schüttelten, man habe ihn nur zu Gaule in den Wald retirieren sehen, sein kleines Gefolge auf den Fersen, seither fehle jede Spur. Wir legten uns in die Erdmulde auf die Lauer, um auf weitere Überlebende zu warten. Die Mittagssonne stand hoch, nur leicht über dem Zenit. Kaum zwei Stunden dürften es gewesen sein seit dem Überfall, und doch schien es mir so endlos länger her, meinte gar zu zweifeln, ob Geschehenes tatsächlich geschehen, schien alles wie ein ferner Traum, ein Menschenleben her zu sein. Schweigend lagen wir da, dicht nebeneinander, und horchten auf jedes Rascheln oder Knacken, spähten durchs Gestrüpp, ohne jemanden zu entdecken. So zog die eine und die andere Stunde dahin, und keiner tauchte mehr auf.
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