Weil es sich so verhält, haben Philosophen der natürlichen Sprache die alte Aristotelische Substanzontologie reformuliert, also Philosophen von Peter Strawson bis Jonathan Lowe. Sie bestehen darauf, dass unsere Sprache mit ihrem Verständigungspotenzial zusammenbrechen würde, wenn wir auf die Substanzkategorie verzichten würden. Es wäre dann nicht nur so, dass der Physiker sein experimentelles Handeln nicht mehr verstehen könnte, sondern die Kompetenz, sinnvolle Sätze über die Welt zu äußern, würde insgesamt außer Kraft gesetzt und unsere soziale Welt mit ihren Identitätsunterstellungen würde zusammenbrechen.
4) Es gibt in der Tat im Gehirn kein lokalisierbares Aktionszentrum als einen materiell identifizierbaren Ort des Ich, also kein Ich-Modul. Aber warum haben wir das eigentlich erwartet? Gibt es die Zeitmessung in der Uhr? Wenn wir eine mechanische Uhr zerlegen, dann finden wir Zahnräder, Achsen, eine Unruh, eine Feder usw., aber wir finden kein Zentrum, denn Uhren haben kein solches Zentrum. Hindert dies, dass sie dem einheitlichen Zweck der Zeitmessung dienen? Oder können wir die Musikübertragung in den Teilen eines Radios, die Informationsverarbeitung in den elektronischen Bauteilen eines Computers finden oder das Fahren in einem Fahrrad? Niemand würde auf die Idee kommen, sie dort zu suchen. Aber warum erwarten wir dann, ein Ich im Gehirn zu finden? Die suggestive Plausibilität dieses Gedankens rührt daher, dass wir die Wahrheit des Materialismus bereits unterstellt haben. Wenn der Materialismus wahr ist, dann muss sich das Ich im Gehirn finden und wenn es sich dort nicht findet, dann gibt es eben kein Ich. Aber der Neurowissenschaftler sollte die Wahrheit des Materialismus nicht voraussetzen, sondern beweisen , für den Fall, dass seine Wissenschaft der richtige Ort für solche Beweise ist.
Die Materialisten unter den Neurowissenschaftlern, wie z. B. Gerhard Roth oder Wolf Singer, kennen nur die Alternative Materialismus – Substanzendualismus. Der Substanzendualismus setzt eine vom Leib abgetrennte Geistsubstanz voraus. Diese Lehre, die von Plato begründet und von Descartes erneuert wurde, zieht sehr ernste Einwände auf sich. Z. B. spricht unsere gesamte psychophysische Erfahrung dagegen, die Kausalwirkungen in beide Richtungen kennt. Wenn ich zu viel Alkohol getrunken habe, werde ich müde, wenn ich ein optimistischer Mensch bin, stärkt das mein Immunsystem. Solche Wechselwirkungen in beide Richtungen sind auf dem Hintergrund des Substanzendualismus schwer verständlich.
Aber die Alternative dazu ist nicht der materialistische Monismus, weil es noch eine weitere, viel zu wenig beachtete Alternative gibt: Die Seele kann sehr wohl fest mit dem Leib verbunden und dennoch verschieden von ihm sein, denn eine Unterscheidung ist noch keine Trennung! Wenn ich z. B. körperlichen von seelischem Schmerz unterscheide, dann habe ich nicht behauptet, dass beide ganz unabhängig voneinander vorkommen. Ich behaupte nur, dass sie kategorial verschieden sind. Eine solche Auffassung der menschlichen Seele hat Aristoteles vertreten, dieser geniale Theoretiker der Lebenswelt, der auch heute noch lesenswert ist, weil sich nämlich unsere Lebenswelt seit dem Griechentum nicht radikal verändert hat, während unsere wissenschaftlichen Auffassungen ganz andere geworden sind. Man erkennt dies, wenn man solche Bücher liest wie Aristoteles’ Kosmologie oder auch seine Ethik . Aristoteles’ Kosmologie ist uns derart fremd, dass wir Mühe haben zu verstehen, von was er überhaupt redet. Liest man hingegen seine Bücher zur Ethik, dann ist uns prinzipiell alles verstehbar, auch ohne jeden klugen Kommentar.
Wir haben also nach wie vor Veranlassung, die Aristotelische Konzeption einer Vermittlung von Geist und Materie ernst zu nehmen, denn sie bewährt sich seit über 2000 Jahren. Unsere lebensweltliche Erfahrung widerspricht auch heute noch sowohl dem Substanzendualismus als auch dem Materialismus. Niemand erfährt sich als aufgespalten in eine geistige und in eine davon unabhängige materielle Substanz, noch nehmen wir uns als einen materiellen Klotz wahr, der fiktive Geisteswolken verströmt. Vielmehr sind wir eine psychosomatische Einheit mit zwei Aspekten. Diese fundamentale Einheit in Verschiedenheit wird auch das Modell sein, das einer Alternative zugrunde liegen wird, die wir dann im achten Kapitel vorstellen. Diese Alternative, dass nämlich Geist und Materie sowohl ungeschieden als auch ungetrennt sind, ließe sich auch an den einfachen technischen Beispielen verdeutlichen, die oben erwähnt wurden. Nach Aristoteles haben auch technische Artefakte eine Form , also etwas Geistiges in sich, einfach deshalb, weil der Ingenieur bei ihrer Herstellung einen Zweck verfolgte. Zeitmessung, Musikübertragung, Informationsverarbeitung sind Zwecke, deren Verwirklichung der Ingenieur durch die spezifische Vernetzung der materiellen Teile realisiert. Da es sich bei diesen Zwecken um Ideen handelt, kommen sie weder in der Materie als gesonderte Einzelteile vor, noch existieren sie außerhalb. Sie sind ihre Form . Das Geistige ist kein Was, sondern ein Wodurch . Wir haben eine fatale Neigung, den Geist als ein Ding hinter den Dingen zu suchen, so wie Klopfgeister, die in einem verwunschenen Schloss nächstens spuken und wenn wir Gründe haben, solche Klopfgeister für Hirngespinste zu halten, dann schließen wir voreilig auf die Wahrheit des Materialismus. Aber der Geist ist kein Ding hinter den Dingen, sondern die Art der Dinge zu sein. Man sollte also verschiedene Seinsweisen zulassen. Ein Mensch ist auf eine andere Weise als ein Stein oder ein Tier und unsere Weltauffassung sollte daher pluralistisch und nicht einfach nur monistisch sein. Die Vielheit der Formen ist nicht wie eine Knetmasse, aus der das Kind spielerisch Gestalten erzeugt, um sie wieder zu zerstören, wobei die Knetmasse stets erhalten bleibt als eine allem zugrunde liegende Substanz. Die Identität der Dinge liegt nicht in ihrer Materie, sondern in ihrer Form und diese Formen liegen auf verschiedenem Niveau.
Nun aber zurück zu den Beispielen: So wie Newton im praktischen Leben (gegen seine eigene Theorie!) annehmen musste, dass ein sich bewegender Körper ständig angetrieben werden muss, soll er nicht zum Stillstand kommen, so wie der Quantenphysiker vom substanziellen Charakter seiner Messinstrumente (oder seiner eigenen Person und seiner Kollegen) überzeugt ist, so unterstellt auch der Neurowissenschaftler in seiner praktischen Existenz Personalität, Vernunft und Freiheit bei sich selbst und auch bei allen Menschen, mit denen er verkehrt. Ohne diese Unterstellungen würde jede soziale Übereinkunft zerstört. Wir haben keine Vorstellung davon, wie ein Leben ohne solche fundamentale Unterstellungen funktionieren würde und wir haben auch keine Kunde von einer Epoche der Menschheit, wo es Derartiges noch nicht gegeben hat. Obwohl sich unsere Vorstellungen, was das Ich sei, welche Verhaltensweisen vernünftig oder moralisch sind, epochal und lokal gravierend verändern, bleibt doch ihr Dass erhalten. Dass wir Verantwortungssubjekte sind, kann füglich nicht bezweifelt werden. Doch was folgt aus all dem für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt?
Es folgt a), dass beide wie die unabhängigen Brennpunkte einer Ellipse sind, die diese Figur erst aufspannen und ermöglichen. Es folgt b), dass wir sowohl das in die Alltagssprache als auch die Wissenschaft eingebaute Wirklichkeitsverständnis ganz ernst nehmen sollten. Aber dann ergibt sich sofort ein Problem: Was, wenn sich diese Wirklichkeitsverständnisse ernstlich widersprechen oder wenn ihr Zusammenhang nicht ersichtlich ist? Wir leben ja doch in einer Welt und das Wort Realität existiert ernstlich nicht im Plural, so wie es keine verschiedenen Universen gibt, sondern nur das eine Universum, in dem wir leben. Für dieses drängende Problem einer Einheit der Realität gibt es womöglich keine glatte Lösung, aber vielleicht eine pragmatische Strategie des Umgangs: Wir können es uns nämlich eher leisten auf eine bestimmte wissenschaftliche Doktrin zu verzichten als auf unsere grundlegenden praktischen Intuitionen, vor allem, weil es sich bei diesen Doktrinen oft nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse als solche handelt, sondern um deren weltanschauliche Interpretation. Was würde sich denn an Singers oder an Roths Wissenschaft ändern, wenn sie das materialistische Vorurteil aufgäben, das Ich sei im Gehirn lokalisiert? Müssten sie dann auf irgendeines ihrer Experimente verzichten oder würde sich dann nicht einfach nur der Geltungsanspruch ihrer Theorien verändern, sie selbst aber nicht?
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