Hans-Dieter Schütt
ANDREAS DRESEN
Glücks Spiel
Porträt eines Regisseurs
Bildquellen
Archiv Andreas Dresen: S. 7, 47, 97, 101, 105, 108, 114 u., 122 o., 147, 162, 167, 176, 195, 228 / Berlinale: S. 233 / Constantin Film: S. 285 / Peter Hartwig: S. 24, 32, 74, 94, 227, 241, 267, 273, 280, 297 / Andreas Höfer: S. 122 u., 159, 289 / Steffen Junghans/Senator: S. 55, 57, 87 / Anke Neugebauer: S. 303 / Pandora Film: S. 249 / Rommelfilm: S. 69, 62, 235, 239 o., 257 u. / Schweriner Volkszeitung: S. 114 o. / Thomas Spikermann: S. 197 / Manfred Thomas: S. 103, 234, 257 o. / Ufa: S. 141
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ebook im be.bra verlag, 2020
© der Originalausgabe:
be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2020
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
post@bebraverlag.de
Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin
Umschlag: typegerecht berlin
Titelfoto: © ullstein bild / Popow
ISBN 978-3-8393-0149-4 (epub)
ISBN 978-3-89809-172-5 (print)
www.bebraverlag.de
HANS-DIETER SCHÜTT Kino HANS-DIETER SCHÜTT
Das erste Gesprächüber Corona und Kollektivität, Gundermann und Geschichtsbilder, Hollywood und Ukulele, Filmkarriere und Verbrüderung in der Arbeit
Das zweite Gesprächüber Fehlbesetzungen und Spielleitung, Ruhm und Axel Prahl, Lebenszeit am Schneidetisch, Kunst und Handwerk
Das dritte Gesprächüber Kindheit und erste Theatererfahrung, Väter und Inszenierungen, Amateurfilme und Überwachung, Armee und Angst
Andreas Dresen über Christoph Schroth
Barbara Bachmann über Andreas Dresen
Das vierte Gesprächüber Grundlagenstudium und Ideale, Lothar Bisky und belegte Brötchen, »Stilles Land« und Patagonien
Zwischendrin
ANDREAS DRESEN Zustands Beschreibung
ANDREAS DRESEN Back in the USSR
Das fünfte Gesprächüber Berlinale und Currywurst, Zukunft und Gwisdeks Nachtgestalt, Immobilienkauf und Naivität, reale Verluste und das Rüstzeug fürs Leben
Das sechste Gesprächüber Träume und Nachbau der Welt, Untote aus dem Osten und Richteramt, Glücks Spiel und Lebensrezepturen
Nach-Sätze
LAILA STIELER Das Naheliegende und Fernzüge
WOLFGANG KOHLHAASE Regie: Andreas Dresen
Anhang
Abspann
ADOLF DRESEN
Für den kleinen Andreas, als er einmal viel Pech hatte
Am Stock, damit sie stehen kann,
Bindt Andi seine Blume an.
Die Winde Winde wehen,
Die Blume will nicht stehen,
Und eh ihr eine Blüte glückt,
Ist sie geknickt und abgepflückt.
Doch was sind das für Faxen?
Der Stock fängt an zu wachsen,
Der Stock will Stock nicht bleiben,
Will selber Blätter treiben,
Stolz trägt er eines Tags als Strauch
Nun selber eine Blüte auch.
So kommt verflixt und hinterrücks
Doch noch der Augenblick des Glücks.
Andreas Dresen auf Sommertour mit eigenen Amateurfilmen
HANS-DIETER SCHÜTT
1.
Der Schock ist ehrlich. Ich traue meinen Augen nicht. Da, auf der Hollywoodschaukel, sitzt Gerhard Gundermann, im Jogginghosenlook. Ja, er. Das Schniefen, das Schlaksige, der sprachliche Schnodder. Der Zopf. Die Musikalität. Es ist Nachmittag, Kaffeezeit. Der Garten des Hauses in Spreetal.
Aber es ist doch 2017! Fast zwanzig Jahre nach dem Tod des Arbeiters und Sängers. Und Spreetal ist in Wahrheit Gelsenkirchen. Wahrheit? Kino will nicht Wahrheit, sondern Wahrhaftigkeit. Und braucht keine reale Geografie, um Welt zu werden. Unglaublich – als sei das alles nicht wahr. Es ist nicht wahr. Und irgendwie doch.
Gundermann, das ist der Schauspieler Alexander Scheer. Die Zähne sind natürlich eine Prothese, die Scheer eine Weile auch privat trug. Schauspielen? Weit mehr. Und mehr sogar als Verwandlung: Anverwandlung. Besessenheit ist ein Raubtier, es ernährt sich von Einverleibung.
Es ist in jenem Oktober 2017 früh um sieben, gedreht aber wird eine Szene am Nachmittag: Kaffeezeit. Ich stehe in einer der Kulissen zum Film »Gundermann«, den Andreas Dresen gerade dreht. Das Buch schrieb Laila Stieler, die langjährige Arbeitspartnerin. Langgehegt, dieses Projekt. Es hat viel mit Dresen selbst zu tun, mit seinem Blick auf jüngere deutsche Geschichte. Er sei ein Wächter über die Nuancen«, notierte Wolfgang Kohlhaase über Dresen, er meint die Methode der Regie – und eine Lebensweise. Die Weise, Welt zu beobachten, die kleine wie die große.
Filme von Dresen. Sei es jener ungelenk emphatische Theatermann in »Stilles Land«, der sich in DDR-Wendezeiten in der Provinz an Beckett versucht; sei es das Chaos der Paarbildung in »Halbe Treppe«; seien es die beiden jungen Sehnsuchtsfrauen in ihrem »Sommer vorm Balkon«; sei es das Wagnis einer späten Liebe in »Wolke 9« – Kunst, der Verse von Gundermann vorangestellt sein könnte: »ich bin nicht hier um zu gewinnen / ich bin am leben um es zu verliern / wo nichts verloren wird / ist nichts zu finden / und wer sich wärmen will muss erstmal friern.« Dresens Filme: Die Siege stürzend spüren, und den Aufflug erdenschwer erfahren. Aber letztlich springt man beherzt auf den Zug des Lebens auf. Wenn nicht das Sterben gerade gnadenlos trivial und der Krebs kalt zuschlägt und zum »Halt auf freier Strecke« zwingt. Leben, das heißt immer auch: Es wird der Wunsch bleiben, nicht wissen zu wollen, wann uns das Unglück erreicht, das nicht im Kalender steht.
2.
Gundermann: der Poet aus dem Tagebau. Ein anstrengender Avantgardist des sozialistischen Engagements, des unablässigen Drachentötens. Von Johannes R. Becher gibt es eine treffliche Definition für Begabung: Es sei die Fähigkeit, in gesellschaftlich aufschlussreiche Situationen zu geraten. Gundermann, das war Tagebau, Bühne, Armee, Stasi, Umschulungswerkstatt – trächtige Orte für gesellschaftlich sehr aufschlussreiche Situationen, in denen er als Erfahrungssüchtiger lebte. Er war so unbenutzbar, wie er gierig darauf war, nützlich zu sein. Aus Enttäuschungen ging er nicht fliehend, sondern arbeitend. Sein lyrisches Werk weiß viel vom Leben: Aufbau ist Arbeit – am Untergang. Was aber bleibt, ist die Gangart: zum Beispiel, dass man für ein Ziel quer über die Gleise geht. Eine Gangart Gundermanns. Und die Spielart Scheers, dieses faszinierenden Castorf-Spielers. Ein Räudiger des Romantischen. Der akzeptiert für seine Gipfelrouten keine warnenden, mäßigenden Entfernungsangaben. Einer, der nie bereit ist, bloß die Strichfassung von Sehnsüchten zu spielen. Und zu leben.
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