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Die Phantasie als Schnittstelle
Hans Dieter Huber
Copyright 2010 Hans Dieter Huber
Umschlaggestaltung: Hans Dieter Huber
published by epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-86931-830-1
Rezeptivität und Produktivität
Der Leonberger Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat 1799 in seinem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie zwei Grundbestimmungen des lebenden Organismus getroffen, die sein Leben gegenüber der äußeren Natur bestimmen, welche er Rezeptivität und Produktivität nennt.
Wir könnten heute auch davon sprechen, dass Leiden und Handeln unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst bestimmen. Während es in der Philosophie eine Menge Literatur über Handeln, Absicht und Willensfreiheit gibt, findet man kaum vernünftige Literatur über das Leiden. Schelling hatte Rezeptivität und Produktivität auf geradezu geniale Art und Weise miteinander verknüpft, die bis heute ihresgleichen sucht. Beide benötigen sich und sind wechselseitig von einander abhängig. Man könnte von einem Chiasmus, einer strukturellen Kopplung oder einer Möbius-Schleife sprechen. (Abb. 2)
Schelling behauptet, dass Produktivität eine Tätigkeit des lebenden Organismus sei, die von innen nach außen wirke. Aber sie könne dies nur durch den Unterschied zu einer anderen Richtung tun, die genau umgekehrt, nämlich von außen nach innen, wirke. 1
Und das sei die Rezeptivität des Menschen. Dies führt Schelling in die paradoxe Situation, dass dass auf der einen Seite die unbelebte äußere Natur ständig gegen die Tätigkeit der menschlichen Produktivität kämpft. Jeder produktive oder künstlerisch tätige Mensch kennt das aus seiner eigenen Erfahrung, den Widerstand des Materials, das nicht so will, wie man es gerne hätte. Dies sei nach Schelling aber auf der anderen Seite nur dadurch möglich, dass auch die Produktivität gleichermaßen gegen die äußere Natur, die Materie, kämpfe.
Abb. 2: Max Bill: Unendliche Oberfläche
Schelling schreibt:
„Ihre Empfänglichkeit für das Aeußere ist also durch ihre Thätigkeit gegen dasselbe bedingt. Nur insofern sie der äußeren Natur wiederstrebt, kann die äußere Natur auf sie als ein Inneres einwirken.“2
Und in einer Fußnote ergänzt er:
„Die tote Materie hat keine Außenwelt – sie ist absolut identisch mit ihrer Welt. – Die Bedingung einer Thätigkeit nach außen ist eine Einwirkung von außen. Aber auch umgekehrt die Bedingung einer Einwirkung von außen ist die Thätigkeit des Produkts nach außen. Diese Wechselbestimmung ist von der höchsten Wichtigkeit für die Konstruktion aller Lebens–erscheinungen.“3
Abb.3: Franz Marc: Kämpfende Formen, 1914
Die produktive Tätigkeit eines lebenden Organismus ist also einerseits durch seine Rezeptivität bestimmt.4 Andererseits ist die Rezeptivität eines lebenden Organismus wiederum nur durch seine produktive Tätigkeit bedingt.5 Die äußere Materie kann aber im lebenden Organismus nicht nach ihren Kräften frei und ungehindert wirken, sondern sie wird vom Organismus umgewandelt.
„Was in die Sphäre des Organismus tritt, nimmt von diesem Augenblicke an eine neue ihm fremde Wirkungsart an, die es nicht verlässt, ehe es der anorgischen Natur wiedergegeben ist.“6
Phantasie als Schnittstelle zwischen Rezeptivität und Produktivität
Sprechen wir nun über diese Umwandlung, Transformation oder Schnittstelle, an der etwas Äußeres zu etwas Innerem oder etwas Inneres zu etwas Äußerem wird. Es gibt eine Geistestätigkeit oder kognitive Funktion, welche diese wechselseitige Verknüpfung von Rezeptivität und produktiver Tätigkeit steuert und kontrolliert; und zwar die Phantasie. Sie ist die zentrale Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen Rezeptivität und Produktivität zwischen passivem Erleiden und aktivem Handeln. Es mag Sie vielleicht erstaunen, dass ich nicht den Verstand oder das rationale Denken an diese Stelle setze. Aber das hat seine Gründe. Diese emotional-kognitive Synthesefunktion ist in der Geschichte immer wieder unter den verschiedensten Namen behandelt worden. Einbildungskraft, Vorstellung, Imagination oder Phantasie sind die gängigsten Kandidaten. Die Auseinandersetzungen über Funktion und Aufgabe dieses Geistesvermögens gehen bis zu den griechischen Philosophen zurück. Das griechische phantasia ist der Begriff für eine Fähigkeit des Geistes, für sich selbst und in sich selbst bildhafte Vorstellungen erschaffen zu können. Ins Lateinische wurde der Begriff entweder als imaginatio übersetzt oder als griechisches Lehnwort (als phantasia) benutzt.7 Der Hohenheimer Arzt, Naturforscher und Philosoph Paracelsus (1493–1541) war der erste, der als Übersetzung des Lateinischen vis imaginativa den deutschen Begriff Einbildungskraft prägte.8 Erst viel später, im 18. Jahrhundert, entwickelte sich der Begriff des Vorstellungsvermögens. Nichts desto trotz zeigt seine lange Geschichte, dass es sich immer um eine äußerst wichtige, wenn auch schwer zu bestimmende Funktion gehandelt hat. Sie bildet eine wichtige Schnittstelle sowohl für das Verständnis der grundlegenden Sinnlichkeit unseres Lebens als auch für die Funktionen der Erinnerung und des Verstehens. Ein erheblicher Teil unseres Lebens ist imaginativ. Und es wird sich später erweisen, dass dieses imaginative Denken im Wesentlichen nicht nur bildhaft ist, sondern alle Sinneskanäle betrifft, also multimodal organisiert, ist.
Die zwei Richtungen der Phantasie
Imagination ist in zwei Richtungen tätig, von innen nach außen und von außen nach innen. Sie ist auf der einen Seite die entscheidende Schnittstelle für den Übergang von äußeren Eindrücken zu inneren Bildern. Sie ist aber auch in umgekehrter Richtung an der Produktion äußerer Bilder durch innere Vorstellungen entscheidend beteiligt. Darüber hinaus kann man mit Hilfe der Phantasie auch unsere Zeitwahrnehmung erklären. Wenn die Phantasie von außen nach innen wirkt, ist sie reproduktive Phantasie und Teil der Vergangenheit und ihrer Erinnerung. Mit Hilfe der Phantasie und des Vorstellungsvermögens erinnern wir uns zurückliegender Ereignisse und vergegenwärtigen sie uns im hier und Jetzt, obwohl sie nicht anwesend sind. Wenn sie dagegen von innen nach außen wirkt, ist sie produktive Einbildungskraft. Sie ist dann Bestandteil einer antizipierten Zukunft, Utopie oder Vision. Sie wirkt projektiv und entwirft ein Bild der Welt, wie sie nicht ist, aber sein könnte. Sinneswahrnehmung, Phantasie und Gedächtnis wirken sowohl bei der Konstitution innerer als auch äußerer Bilder eng zusammen. Die Richtung ist jederzeit beliebig umkehrbar. Sie kann von innen nach außen gerichtet sein und im nächsten Moment von außen nach innen. Phantasie ist die Schaltzentrale, das switchboard oder Relais, in dem ein Abgleich zwischen den von der Außenwelt kommenden Irritationen und der inneren, produktiven Eigenaktivität des Beobachters stattfindet.
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