Hans-Dieter Mutschler
Alles Materie
– oder was?
Das Verhältnis von
Naturwissenschaft
und Religion
Hans-Dieter Mutschler
Alles Materie
– oder was?
Das Verhältnis von
Naturwissenschaft
und Religion
echter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2016
© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg
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Umschlag: wunderlichundweigand.de
(Foto: Angela Waye/ shutterstock.com)
Satz: Hain-Team ( www.hain-team.de)
ISBN
978-3-429-03923-3 (Print)
978-3-429-04852-5 (PDF)
978-3-429-06271-2 (ePub)
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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Inhalt
Einleitung
1. Der kluge und der primitive Materialismus
a. Der kluge Materialismus
b. Der primitive Materialismus
2. Ist der Mensch ein Produkt der Evolution?
3. Die Leib-Seele-Debatte
a. Die falsche Alternative
b. Peter Bieris drei Prinzipien
c. Die Frage nach den Erlebnisqualitäten
d. Das Gehirn als Beziehungsorgan
4. Die drei Dogmen des Materialismus
a. Das materielle Fundament
b. Das Supervenienzprinzip und die Statik des Universums
c. Die kausale Geschlossenheit der Welt und ihre Dynamik
5. Essentialismus und die Aufhebung der Moral
a. Die Trennung von Theorie und Praxis
b. Technologische Barbarei
c. Die Alternative
6. Praktischer und theoretischer Materialismus
a. Subjekt und Objekt
b. Eine andere Sichtweise: das Mittelalter
c. Das Habenwollen und die Wissenschaft
7. Glaube und Wissenschaft
a. Es gibt kein richtiges Leben im falschen
b. Sozialkritik und das Vertrauen ins Sein
c. Der naturalisierte Glaube
d. Die Architektur als Symbol
e. Mutige Theologen
8. Theologie der Natur
a. Das faktisch- und das normativ-Allgemeine
b. Der unendlich große Kosmos der Physik Quantität und Qualität
c. Das Leiden in der Natur Zufall und Zweckmäßigkeit
d. Verlust und Bedeutung des Symbolischen
e. Der „overview effect“ und das Unverfügbare im Verfügbaren
Literatur
Einleitung
Vor 200 Jahren war in Deutschland der Hegelianismus Mode. Wer etwas war, war Hegelianer. Die Hegel’sche Philosophie steht am Ende einer Entwicklung, die mit Kant beginnt und über Fichte und Schelling zu ihrem Höhepunkt führt, als den sich Hegel ganz eindeutig sah. Er fühlte sich aber nicht nur als Höhepunkt der Philosophiegeschichte (was arrogant genug gewesen wäre), sondern zugleich als der Höhepunkt der gesamten Kulturgeschichte seit über 5000 Jahren. Goethe hat sich in seinem „Faust“ über diese Wichtigtuerei lächerlich gemacht, aber wer etwas auf sich hielt, war vor 200 Jahren dennoch Hegelianer.
50 Jahre später war der ganze Spuk verflogen. Die völlig überhöhten Geltungsansprüche der Deutschen Idealisten hatten sich als illusorisch erwiesen. Das änderte aber nichts daran, dass man sich in Deutschland weiterhin als Spitze der kulturellen Entwicklung sah, wenn auch aus anderen Gründen. Die Deutschen hatten – so ihre schmeichelhafte Selbstdeutung – die beste Technik, die beste Naturwissenschaft, das schlagkräftigste Militär und die besten Waffen. Im Ersten Weltkrieg zerstob diese Illusion deutscher Überlegenheit, auch wenn man es nicht so recht wahrhaben wollte und sich eine ‚Dolchstoßlegende‘ zurechtphantasierte.
Hier legt sich der Verdacht nahe, dass es so etwas wie eine ‚kollektive Egozentrik‘ gibt, d. h., das Kollektiv hat Neigung, sich prinzipiell überlegen zu fühlen, und zwar nicht nur anderen gesellschaftlichen Gruppierungen oder Nationen gegenüber, sondern auch bezüglich der gesamten Vergangenheit. Wir lieben es, vom hohen Ross herabzuschauen, und das war wohl schon immer so. Die Griechen nannten alle Menschen, deren Sprache sie nicht verstanden, ‚Barbaren‘, was lautmalerisch so viel heißt wie ‚Blabla‘. Wer kein Griechisch verstand, war allein aus diesem Grunde ein Barbar.
Es spricht nichts dafür, dass wir diese kollektive Egozentrik inzwischen abgelegt hätten. Sie wandelt höchstens ihre Gestalt. Heute sind wir zumeist der Meinung, dass unsere Höchstleistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik eine Stufe der Kultur repräsentieren, verglichen mit der alle vergangenen Kulturen in Mythos, Mystik und Aberglauben versinken. Im Mittelalter glaubte man an Gott, Hexen, Engel und Teufel, fiktive Wesen, die vor dem Licht der wissenschaftlichen Aufklärung ins Nichts verschwinden. Stattdessen reden wir uns ein, realistisch zu sein und nichts als realistisch. Nach unserer Überzeugung besteht die Welt aus Atomen und alle höheren Formen sind nichts als die Zusammenballung solcher Atome und wenn wir ihre Bindungsgesetze genau genug kennen würden, könnten wir z. B. aus den Zuständen der Atome in unserem Gehirn ableiten, was wir denken, fühlen oder wollen. Der Geist würde sich als ein Sekundärphänomen der feuernden Neuronen im Gehirn erweisen.
So wie der Dampf über einem sonnenbeschienenen Gewässer keine Substanz eigenen Rechtes ist, so ist der menschliche Geist nach dieser Auffassung nichts als eine Ausdünstung des Gehirns, die wir bald mathematisch berechnen können, und wo der menschliche Geist als eine eigenständige Größe verschwindet, brauchen wir von Gott erst gar nicht mehr zu reden. Gott degeneriert in dieser Sichtweise zu einem Placeboeffekt der Evolution, eine nützliche Illusion im Kampf ums Überleben, d. h., wer heute noch ernstlich am Glauben festhält, tut dies wider besseres Wissen.
Eine solche Art der ‚wissenschaftlichen‘ Aufklärung dominiert heute in Intellektuellenkreisen, und derjenige, der sie sich zu eigen macht, fühlt sich haushoch überlegen über jeden traditionellen Humanismus, vor allen Dingen aber über die Religion. So gesehen, ist der gläubige Mensch im Mittelalter stehen geblieben, und die Humanisten sind kulturkonservativ zu spät Gekommene, die an ihren Überzeugungen festhalten wie jemand, der die geschnitzte Kuckucksuhr seines Großvaters an der Wand hängen lässt, auch wenn sie nicht mehr zu seinen Möbeln passt.
Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass der Materialismus keineswegs aus der Naturwissenschaft folgt, und es wird sich weiter zeigen, dass er keinerlei Gründe hat, sich das gute Gewissen der Aufklärung zu machen. Es handelt sich vielmehr um eine dieser Formen kollektiver Egozentrik, die es in der Geschichte schon so oft gegeben hat.
Vor 30 oder 40 Jahren war unter Intellektuellen der Neomarxismus Mode. Man schwadronierte ständig von den „sozioökonomischen Bedingungen“ und weil alles, was es gibt, sozial und ökonomisch bedingt ist, konnte man auch zu allem etwas sagen und musste niemals fürchten, widerlegt zu werden. Diejenigen, die diese Rede im Munde führten, fühlten sich ebenfalls allem „bürgerlichen Denken“ – wie sie es nannten – haushoch überlegen und pflegten ihr moralisch-intellektuelles Überlegenheitsgefühl als einen Sonderfall kollektiver Egozentrik.
All das ist nun Geschichte. Diejenigen, die seinerzeit den Neomarxismus vertraten, leben immer noch unter uns, aber sie trauen sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, weil sie nur im Kollektiv stark waren. Diese kollektive Egozentrik braucht die Stallwärme Gleichgesinnter, da sie nicht auf persönlicher Überzeugung beruht, sondern auf der Selbstbestätigung durch das Rudel. Aus diesem Grunde erheben die Neomarxisten auch dann nicht ihre Stimme, wenn die Ereignisse danach schreien. Die Bankenkrise von 2007 lief in vieler Hinsicht nach Schemata ab, die Marx vor 150 Jahren prophezeit hatte. Aber die Alt-68er schwiegen beharrlich. Es hätte Mutes bedurft, jetzt aufzustehen, aber sie fühlten sich offenbar nur im Kollektiv wohl, das sich inzwischen aufgelöst hatte.
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