Wissenschaft und Lebenswelt sauber auseinanderzuhalten und wieder ordentlich aufeinander zu beziehen, ist also fundamental, wenn wir mit beiden zurecht kommen wollen. Der szientifische Materialist hingegen fängt mit der Wissenschaft an, sodass wir auf diesem Niveau sogar entscheidende Aufklärung von ihm erwarten dürfen. Dann aber wird er weltanschaulich, was ihm sein Bedürfnis diktiert. Dieses Bedürfnis, das wir nach Rahner „gnoseologische Konkupiszenz“ nennen, führt ihn dazu, Inhalte der praktisch bestimmten Lebenswelt ad hoc heranzuziehen, metaphysisch zu verallgemeinern, um einen universal-ontologischen Klebstoff herzustellen, der die Phänomene zu einem materiell verstandenen Block zusammenleimt, der dann in der Tat jedes religiöse und metaphysisch anspruchsvollere Weltverhalten ausschließt. Das ist dann aber nicht eine Konsequenz der Wissenschaft als solcher, sondern das Resultat einer willkürlich hergestellten Ideologie, die ihre Plausibilität eher dunklen Ahnungen und gesellschaftlichen Konventionen als einem überprüfbaren Wahrheitsanspruch verdankt.
Aus diesen Gründen sind solche vorgängigen Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt fundamental für die vorliegende Arbeit. In diesem Zusammenhang steht nun der wissenschaftliche Reduktionismus im Zentrum, der Versuch nämlich, unsere praktische Lebenswelt als Oberflächenphänomen tiefer liegender Kausalverhältnisse zu beschreiben. Obwohl das ein sinnloses Unternehmen ist, scheint zunächst einmal viel zu seinen Gunsten zu sprechen und deshalb ist diese Haltung so verbreitet und beliebt und es lassen sich auch zu ihren Gunsten zunächst einmal scheinbar einleuchtende Gründe ins Feld führen:
1) Lebensweltlich-praktisch sind wir davon überzeugt, dass sich die Sonne, der Mond und die Sterne um unsere Erde drehen, die uns als fixiert erscheint, sodass wir im Mittelpunkt stehen. Dies hat man ja in der Tat über Jahrtausende geglaubt, aber es hat sich als falsch erwiesen.
2) Unsere lebensweltliche Erfahrung macht uns glauben, dass ein Körper, der nicht von einer Kraft angetrieben wird, zur Ruhe kommt, aber schon Galilei klärt uns darüber auf, dass es eine Trägheitsbewegung gibt. Newton drückt es so aus: Ein Körper in Bewegung, der nicht von einer Kraft beeinflusst wird, hält seinen Bewegungszustand bei, ohne dass er künstlich angetrieben werden müsste. Wir haben uns also wiederum geirrt.
3) Unsere lebensweltliche Erfahrung macht uns glauben, dass die Realität aus festen materiellen Substanzen besteht, die bleiben, während ihre akzidentellen Bestimmungen wechseln. Z. B. ist mein Auto dasselbe, auch wenn die Karosserie inzwischen verbeult, der Lack stumpf und die Sitze rissig geworden sind.
Die Physik klärt uns hingegen darüber auf, dass fix und fertig erscheinende materielle Substanzen nichts sind als ein Wirbel substratloser Ereignisse, wie sie die Quantentheorie beschreibt. Diese Wissenschaft kennt keine festen Substanzen.
4) Während wir in unserem praktischen Leben davon überzeugt sind, einen stabilen Personkern zu besitzen, mit Vernunft und Freiheit begabt, zeigt die Neurowissenschaft, dass es kein Zentrum im Gehirn gibt, von dem einheitliche Kausalwirkungen ausgehen könnten. Es scheint vielmehr, dass das Ich eine Illusion ist, die das Gehirn erzeugt, vermutlich, weil es unsere Lebenstauglichkeit erhöht.
Man könnte solche Beispiele beliebig vermehren und sie scheinen die Konsequenz nahezulegen, dass Naturwissenschaft der Platzhalter der Wahrheit über unsere Welt ist und dass wir uns von ihr besser beraten lassen sollten, während unsere praktisch-lebensweltlichen Überzeugungen eher wie atavistische Restbestände der Evolution sind, die wir endlich hinter uns lassen sollten. Ein differenzierterer Blick zeigt aber, dass es so einfach nicht ist. Wären nämlich unsere praktischen Überzeugungen alle falsch, dann wäre völlig unverständlich, wie wir überlebt haben konnten. Ein Wesen, das sich in Bezug auf seine praktischen Überzeugungen ständig irrt, stirbt aus. Von daher lassen sich die genannten Beispiele gegen den Strich bürsten und enthalten dann eine ganz andere Lehre, was das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt anbelangt:
1) Für unsere praktische Existenz ist es völlig irrelevant, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder anders herum. Deshalb spielt ein Irrtum auf diesem Niveau im Praktischen keine Rolle. Für uns sind z. B. auch die makro- und mikroskopischen Verhältnisse ganz unverständlich oder kontraintuitiv, deshalb sind Relativitäts- und Quantentheorie mit ihren Zeitdilatationen, Längenkontraktionen und verschränkten Systemen so schwer begreiflich. Niemand bestreitet, dass diese Theorien Wahrheit enthalten, aber es ist eine Wahrheit, die unsere praktische Existenz nicht weiter berührt und genau deshalb schadet uns auch ein Irrtum diesbezüglich nicht.
Das heißt: Die Dignität unserer Lebenswelt wird durch solche Entdeckungen in keiner Weise in Frage gestellt, noch sind wir gezwungen, von unseren praktischen Überzeugungen her die Wissenschaft zu kritisieren. Das ist aber bei den folgenden Beispielen anders. Hier haben unsere lebensweltlichen Intuitionen sogar eine ganz eigenständige Bedeutung, die sich im Grenzfall kritisch gegen die Wissenschaft richten darf.
2) Die These, dass ein bewegter Körper, auf den keine Kraft mehr ausgeübt wird, zum Stillstand kommt, ist Teil der Physik des Aristoteles. Man hat sie im Gefolge der Newton’schen Revolution für überholt erklärt, aber im Grunde beschreibt sie unsere Erfahrung zutreffend, denn die zeiträumlichen Bewegungen unserer Lebenswelt sind immer mit Reibung verbunden, so dass ein Körper zum Stillstand kommt, wenn keine Kraft mehr auf ihn wirkt. Gerade die Newtonsche Physik bestätigt unsere lebensweltlichen Intuitionen. Wir haben hier ein Beispiel vor uns, das für unsere praktische Existenz höchst belangvoll ist. Würden wir uns in solchen Zusammenhängen täuschen, dann wäre die These von der Ersetzbarkeit der Lebenswelt durch die Wissenschaft plausibel, aber nur dann.
3) Das substanzielle Denken, das letztlich auf Aristoteles zurückgeht, wurde seit dem Ausgang des Mittelalters als oberflächlich hingestellt. Im 20. Jahrhundert schrieb der Philosoph Ernst Cassirer das Buch „Vom Substanz- zum Funktionsbegriff“, in dem er die These vertrat, das Substanzdenken sei durch die wissenschaftliche Aufklärung überholt und durch den Funktionsbegriff zu ersetzen. Er bezog diese These nicht nur auf den Übergang von der Aristotelischen zur Newton’schen Physik, sondern auf die Kultur als Ganze. Unser gesamtes Denken habe einen Bruch vollzogen, weg vom Substanziellen zum Funktionalen und dies sei ein nicht zu leugnender Fortschritt, ein irreversibler Sprung der Gesamtkultur, hinter den wir nicht zurückfallen dürften.
In der Tat löst sich dem Physiker, je weiter seine Wissenschaft fortschreitet, die materielle Substanz in reines Werden oder in rein relationale Strukturen auf. Der Stoff der Wirklichkeit scheinen jetzt substratlose Ereignisse zu sein, und was wir im Alltag als feste Substanzen wahrnehmen, sind in dieser Sichtweise nichts als Bündel von Ereignissen, die sich zufällig zusammenballen, so wie Wassermoleküle in der Luft, die zufällige Wolkenformationen bilden, ohne dass wir deshalb glauben würden, dass Wolken im eigentlichen Sinne existieren. Sie sind nichts als Moleküle, keine Substanzen eigenen Rechts. Es ist aber fraglich, ob wir die regionale Ontologie der Physik verallgemeinern dürfen, um sie auf den Mesokosmos, geschweige denn auf die gesamte Kultur zu übertragen. Wenn ein Physiker ein Experiment durchführt, betrachtet er sein Messgerät nicht als ein Bündel von Ereignissen, sondern als eine feste Substanz, die er im Lauf seiner Manipulationen wiedererkennt. So ist es auch mit den Substanzen, mit denen wir im Alltag beständig umgehen. Die Bündeltheorie kann nicht erklären, wie wir es fertig bringen, einen Gegenstand, der sich verändert hat, als denselben wiederzuerkennen, denn wenn dieser Gegenstand sich verändert hat, dann müsste nach der Bündeltheorie zumindest ein Ereignis verloren gegangen oder ersetzt worden sein. Aber dann wäre das Bündel nicht mehr dasselbe, denn es ist ja nur als die Summe bestimmter Ereignisse definiert und das hat weiter zur Folge, dass auch der Wissenschaftler sich selbst nicht mehr als identische Person wiederfinden könnte, wenn auch nur ein Haar von seinem Haupte fiele oder eine einzige Hautschuppe sich von ihm abgelöst hätte.
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