Der Mann steht immer noch abwesend am Fenster, lehnt sich an die Brüstung, Grabfigur einer heidnischen Messe mit Elektroorgeln und Gläubigen, die ihre Arme zum Himmel strecken. Er schließt die Augen, sieht nichts mehr, macht sie wieder auf, wird sich dessen bewusst, schenkt den bad boys, die jetzt in die Wohnung drängen, keine Beachtung, sieht nicht diese Nachtschwärmer, die Gesellschaft suchen für das Palais, die afrikanische Nachtbar in der rue des Petits-Écuries, wo doch …
… Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends hat den sich beschleunigenden Verfall des »14« erlebt. Das Haus wird schlecht verwaltet, geht den Bach runter, von den kommunistischen Juden, allesamt schlechte Geschäftsleute, kaum beachtet. Einige Wohnungen sind in gesundheitsgefährdendem Zustand, andere schlicht unbewohnbar. Die Besitzer sind einfach nicht mehr in der Lage, sich zu kümmern, sie begreifen nicht, dass der Immobilienmarkt dabei ist, Paris auf das gleiche Preisniveau zu heben, wie die Weltstädte London, New York oder Tokio. Kurz – die Spekulanten macht sich langsam aber stetig über eines der letzten einfachen Viertel im Zentrum der Haupstadt her und vervierfachen den Quadratmeterpreis innerhalb von zehn Jahren. Ein ganzes Jahrzehnt, um nicht zu begreifen, dass man reich werden könnte. Jude zu sein und dazu Kommunist scheint keine gute Idee zu sein …
Licht ein / Licht aus / die Augen öffnen sich / die Augen schließen sich / eingeschaltet / ausgeschaltet / sie ist da / sie ist nicht mehr da / eingeschaltet / ausgeschaltet / sie ist da / sie ist nicht mehr da / eingeschaltet / ausgeschaltet...
Im Laufe der Zeit gehen die Räumlichkeiten verloren, werden in Untermieten umgepolt, in Unter-Untermieten für Freunde von Freunden: das »14« verliert seine Bedeutung hinsichtlich politischer Emanzipation und Organisation, es verliert seine Kraft zur Selbstverantwortung, weil inzwischen Arbeiter und Gedemütigte aus dem ganzen Land dort einquartiert werden; es wird zu einem Ort des Überlebens, ein Haus der Armen in einem Viertel des rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs, wo Büros für graphische Datenverarbeitung und audiovisuelle Produktion immer schneller die traditionellen Lederhandwerker in den Hinterhöfen ersetzen, das »14« ist ein Geisterhaus, das bei lebendigem Leib verrottet, eine letzte Zuflucht für Leute mit allen möglichen Schwierigkeiten, die es durch Zufallsbegegnungen und die allen gemeine soziale Schieflage hierher verschlagen hat. Du mein alles, mein kleiner Rabauke / Du wirst mein schlauer Superstar / Und ich hab’ furchtbar Angst im Dunkeln.
Er sieht sie tanzen im »14«, rue de Paradis.
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Dienstag, 30. April, 16.40 Uhr
Er setzt seine Irrfahrt durch den Norden von Paris fort. Sonnenstrahlen löchern den Wagen, der unter den Ziegelsteinkonstruktionen von Argenteuil dahinrollt, wie um die Zeit totzuschlagen. Es ist jetzt 15 Uhr und soundsoviel, die Stadt ist leer / ausgeleert / ausgehöhlt, kaum ein Funke von Leben in den stillen Straßen. Die hydropneumatische Federung erzeugt ein verstörendes, in gewisser Weise schmerzlinderndes Gefühl von Unentschlossenheit, oder auch den Schock eines Morphium-Schusses – seit 200 Metern im dritten Gang über eine Avenue, sie trägt die Namen des französischen Maréchal (die Welt steht trotzdem, hart, solide, und ihr unveränderliches Abbild zieht auf den blauen Pupillen des schwitzenden Fahrers vorbei – Mod’hair, Top Hallal-Fleisch, Ecole supérieure d’ostéopathie, Century 21 Immobilien, eine schaurige Folge rostroter Häuser mit Pappe in den zerbrochenen Fenstern, jetzt ein weites Terrain, Nomaden mit Wohnwagen, an denen die Räder fehlen, das Auge zuckt beim Anblick einer Citroën-Vertretung und eines gekrümmten Alten, der in der Bullenhitze auf seinen Einsatz an der Fußgängerpassage wartet).
Der Frühling schreit seine Lebenskraft aus den Blättern der Bäume und verhöhnt das ultraviolette Feuer, das seit vielen Tagen die Stadt zu Kohle brennt. Das pflanzliche Leben brüllt seine allgöttliche Geschlechtlichkeit hinaus. Die Fenster der Xantia sind geschlossen, die Schalldämpfung ist gewiss um einiges besser als die ihrer nicht gerade attraktiven älteren Schwester, der BX. Als wäre die Jüngere eine Zierde der Natur, das graziöse Ergebnis eines langen ästhetischen und industriellen Sedimentierens, die stille Musikerin der Familie. Der Fahrer allerdings – besser noch, der Gatte – ist nicht dieser Ansicht: Er hämmert gereizt auf die Schalttafel, zweimal, will die Frau endlich zum Schweigen bringen, sie noch fester verbarrikadieren, sie fest vernähen, um der Stille noch mehr Stille abzuverlangen in seiner letzten Behausung.
Den unschuldigen Greis hat er hinter sich gelassen, der hat vermutlich gut gelebt und ist in dem Alter, um die Welt ohne großes Bedauern zu verlassen. Er will das Autoradio ausschalten, obwohl es längst stumm ist, während er mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h über eine belebte Verkehrsader der Banlieus im Norden rollt, sinnlos seit geraumer Zeit und ohne klares Ziel, wenn nicht dem, irgendwann für immer anzuhalten. Er kommt zu einem Kreisverkehr, am Ausgang der Stadt / an der Einfahrt in die nächste. Sportlicher Betrieb wird angezeigt – eine Eisbahn, ein Schwimmbad, eine Mehrzweckhalle … Rechts sieht er die weißen Quader des Baukomplexes und hinter den Mauern, wie ein von willkürlichen Visionen geplagtes Medium, sieht er einen Speer, der unter dem Dach der Turnhalle vorbeifliegt, langsam herabsinkt, herabsinkt, bevor er schließlich den Oberschenkel eines Sprinters trifft, der sich auf seinen Lauf vorbereitet.
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Montag, 15. April, 11 Uhr
Er schleppt sich durch das Treppenhaus in der rue Lecuirot Nr. 8. Krisensitzung im Gewerkschaftsbüro. Ein Arbeitsinspektor ist von einem türkischen Unternehmer misshandelt und entführt worden. Der Gewerkschaftsfrühling fängt schlecht an. Der gesetzlose Maurer hat den Funktionär auf einer Baustelle aus dem Verkehr gezogen und in Beton eingegossen, ihn in eine Grabfigur der Branche verwandelt – zu seiner Befreiung brauchte es einen Vorschlaghammer. Der entsetzte Inspektor hat sich in ein Erholungsheim zurückgezogen, einige seiner Kollegen sind im Ausstand. Geschichten dieser Art häufen sich in der Île-de-France. Was soll man machen? Wie soll man ungebildeten Kleinunternehmern Anstand und Sitte wieder nahe bringen? Wie soll die Gewerbeaufsicht ihre Noblesse als Beschützerin der Arbeiter und der illegalen Einwanderer bewahren, wenn Sicherheit auf den Baustellen kein Thema ist?
Lockige Haarsträhnen kleben ihm auf der Stirn. Angstschweiß perlt in Kristallen über seine Schläfen. Sein Anzug ist wüstensandfarben, sein Solarplexus steht in Flammen. In der vagen Hoffnung, einem dieser Topmodelle vor der anstehenden Sitzung zu begegnen, schnürt er durch das Treppenhaus, oben warten dieser Strohhaufen von Gewerkschaft und postmoderne männliche Kollegen, die einem die Wangen küssen. Aber niemand ist auf dem Flur, niemand und nichts, weder Licht noch Gemurmel, nur der synthetische Lavendelduft eines Reinigungsmittels. Er umklammert das Geländer wie ein Blinder seinen Stock. Er hat auf Autopilot umgeschaltet. Leute sehen und an die anderen denken, das wird ihm guttun. Na so was – er hört Gebell und Gelächter. Vielleicht ein Nachbar, der seinen Hund ausführen will. Gestern ist ihm auf dem Quai de Jemmapes eine Frau begegnet, eine deutsche Dogge an der Leine, so groß wie ein Pony. Er bleibt stehen, lauscht den Stimmen nach, die sich über ihm bewegen. Plötzlich geht das Licht an. Aouhhhhhh ! … Gebrüll, das Tote aufweckt. Eine Frau kommt die Treppe heruntergestürzt. Sie trägt einen schwarz gepunkteten, weißen Ganzkörperanzug mit einem Schwanz hinten dran. Unter dem Stoff zeichnen sich ihre Beinmuskeln ab, ihr perfekter Hintern sieht milchig aus, wie nackt. Ihr Gesicht ist zweifarbig schwarzweiß, am Kopf kleben Ohren aus Leder, schwarz glänzt die Hundeschnauze. Aouhhhhhhhh! Sie heult, dann heult eine andere, und doch die gleiche, aouhhhhh! ..., eine Dalmatiner-Dame, einsachtzig groß, die sich kerzengerade auf den Vorderpfoten hält, dann noch eine und noch eine, aouhhhhhh!..., die ganze tolle Meute, aouhhhhhh!... Er rührt sich nicht vom Fleck, in sich selbst gefangen, wie gelähmt zwischen den beiden Etagen, umgeben von vorbeidrängenden Mannequins, die vor Lachen brüllen. Dann verhallt diese Imitation hündischer Verzweiflung, bis sie allmählich völlig verstummt. Er ist wieder allein in seinem Treppenhaus, setzt seinen Aufstieg fort, erreicht den Absatz mit der Model-Agentur, wo das Messingschild Elite im Licht der Deckenlampe glänzt.
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