Der Bauch von Paris
Emile Zola
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Impressum
In dem tief en Schweigen und der Öde der breiten Straße zogen die Wagen der Gemüsebauern nach Paris hinauf mit dem rhythmischen Rumpeln der Räder, das von den Fassaden der Häuser widerhallte, die zu beiden Seiten hinter den verschwommenen Reihen der Ulmen schliefen. Ein Karren mit Kohl und ein Karren mit Schoten waren an der Pont de Neuilly zu acht Wagen mit Kohlrüben und Möhren gestoßen, die von Nanterre herunterkamen; und die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen in ihrer stetigen und trägen Gangart, die durch die Steigung noch langsamer wurde. Oben auf den Gemüseladungen lagen die Fuhrleute unter ihren schwarz und grau gestreiften großen Mänteln auf dem Bauch ausgestreckt und dösten, die Zügel um die Handgelenke gelegt. Immer wenn ein Wagen aus dem Dunkel in den Bereich einer Gaslaterne kam, traf ihr Licht die Nägel einer Schuhsohle, den blauen Ärmel eines Kittels, das Stück einer Mütze, die zwischen der ungeheuren Üppigkeit der roten Möhren und der weißen Kohlrübenbüschel und dem überquellenden Grün von Schoten und Kohl hervorsahen, und vor und hinter ihnen auf dieser Landstraße und auf den benachbarten Straßen ließ entferntes Rattern auf ähnliche Geleitzüge schließen, die die Finsternis und den schweren Schlaf der zweiten Morgenstunde durchquerten, das ganze Heranbranden der Nahrungszufuhr, das mit dem Lärm seines Vorbeiziehens die schwarze Stadt wiegte.
Balthasar, das allzu wohlgenährte Pferd von Frau François, hielt die Spitze des Zuges. Er ging halb im Schlaf, mit den Ohren spielend, als er plötzlich auf der Höhe der Rue Longchamp stehenblieb, vor Schreck wie angewurzelt mit seinen vier Beinen. Die anderen Tiere stießen mit dem Kopf gegen das Hinterteil der vor ihnen fahrenden Wagen, und unter dem Klirren von Eisenteilen und dem Fluchen der aus dem Schlaf gerissenen Fuhrleute kam der Zug zum Halten. Frau François, die sich an ein Brett gegen ihr Gemüse lehnte, sah hin, konnte aber in dem spärlichen Schein, den links die viereckige Laterne warf und der gerade nur eine der glänzenden Flanken Balthasars beleuchtete, nichts erkennen.
»He! Mutter François! Vorwärts!« rief einer der Männer, der auf seinen Kohlrüben kniete. »Das ist irgendein besoffenes Schwein ...«
Die Frau hatte sich vorgebeugt und zu ihrer Rechten, fast unter den Hufen des Pferdes, eine schwarze Masse gewahrt, die die Straße versperrte.
»Man kann doch keine Leute überfahren«, meinte sie und sprang auf die Erde.
Es war ein Mann, der mit dem Gesicht im Staub und mit ausgebreiteten Armen der Länge nach hingestürzt war. Er schien ungewöhnlich groß zu sein und dürr wie ein vertrockneter Zweig; es war ein Wunder, daß ihn Balthasar nicht mit einem Huf tritt zerschmettert hatte. Frau François hielt ihn für tot; sie kauerte sich vor ihn hin, ergriff seine Hand und fühlte, daß sie warm war.
»He! Mann!« sagte sie sanft.
Aber die Fuhrleute wurden ungeduldig. Der Mann, der auf seinem Gemüse kniete, ließ sich wieder mit seiner heiseren Stimme vernehmen:
»Schlagt mit der Peitsche zu, Mutter François! – Der ist voll, das verdammte Schwein! Schieben Sie ihn doch in den Rinnstein!«
Der Mann hatte inzwischen die Augen geöffnet. Verstört und ohne sich zu rühren, sah er Frau François an. Sie glaubte, er sei wirklich betrunken.
»Sie können hier nicht liegenbleiben, Sie werden doch überfahren«, meinte sie zu ihm. »Wo wollen Sie denn überhaupt hin?«
»Ich weiß nicht ...«, antwortete er mit leiser Stimme und fuhr dann mühsam und mit unruhigem Blick fort: »Ich wollte nach Paris, ich bin hingefallen, ich weiß nicht ...«
Sie sah ihn jetzt deutlicher, und er wirkte jämmerlich mit seiner schwarzen Hose und seinem schwarzen Überzieher, die beide ganz zerschlissen waren und seine dürren Knochen sehen ließen. Unter seiner Mütze aus grobem schwarzem Stoff, die er ängstlich bis auf die Brauen heruntergezogen hatte, blickten zwei große braune, eigentümlich sanfte Augen aus einem harten und gequälten Gesicht. Frau François dachte, daß er für einen wirklichen Trinker zu mager sei.
»Und wohin wollten Sie in Paris?« fragte sie von neuem.
Er antwortete nicht sofort; dieses Verhör war ihm unangenehm. Er schien zu überlegen. Dann sagte er zögernd:
»Dorthin, wo die Markthallen sind.« Er war mit unendlicher Mühe aufgestanden und machte Anstalten, seinen Weg fortzusetzen.
Die Gemüsebäuerin sah, wie er schwankte und sich auf die Wagendeichsel stützte.
»Sie sind müde?«
»Ja, sehr müde«, murmelte er.
Da schlug sie einen barschen und gleichsam ungehaltenen Ton an, schubste ihn und sagte:
»Los! Schnell! Klettern Sie auf meinen Wagen! Sie bringen uns ja bloß um unsere Zeit! Ich fahre zu den Markthallen, ich lade Sie mit meinem Gemüse ab.« Und als er ablehnen wollte, schob sie ihn mit ihren starken Armen förmlich hoch, warf ihn auf die Möhren und Kohlrüben und rief ganz ärgerlich: »Machen Sie keine Fisimatenten! Mir reicht's nun ... Wenn ich Ihnen doch sage, daß ich zu den Markthallen fahre! Schlafen Sie ruhig, ich wecke Sie schon!«
Sie stieg wieder auf, lehnte sich an das schrägstehende Brett und nahm die Zügel Balthasars in die Hand, der sich wieder in Marsch setzte, einduselte und mit den Ohren spielte. Die anderen Wagen folgten; der Zug nahm seinen langsamen Trott durch die Dunkelheit wieder auf, und von neuem schlug das Rumpeln der Räder gegen die eingeschlafenen Häuserfronten. Die Fuhrleute begannen unter ihren Mänteln wieder zu dösen. Der Fuhrmann, der Frau François angeredet hatte, brummte, als er sich ausstreckte: »Teufel! Wenn man noch die Besoffenen auflesen soll! Ihr habt Ausdauer, Mutter François ...«
Die Wagen rollten, die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen.
Der Mann, den Frau François eben aufgelesen hatte, lag auf dem Bauch, die langen Beine in dem Haufen Kohlrüben verloren, die den Hinterteil des Wagens ausfüllten. Sein Gesicht versank in den Möhren, deren Bündel sich türmten und aufgingen; und während er aus Furcht, durch einen Stoß hinuntergeschleudert zu werden, mit seinen ausgebreiteten, abgezehrten Armen die riesige Gemüseladung umklammerte, sah er die beiden endlosen Reihen der Gaslaternen vor sich, die näher kamen und ganz dort oben in einem Gewimmel anderer Lichter verschwammen. Ein weiter weißer Dunst wallte am Horizont und hüllte das schlafende Paris in den leuchtenden Brodem all dieser Flammen.
»Ich bin aus Nanterre und heiße Madame François«, begann die Gemüsebäuerin nach einer Weile. »Seitdem ich meinen armen Mann verloren habe, fahre ich jeden Morgen zu den Markthallen. Ach, gehen Sie mir, das ist schwer! – Und Sie?«
»Ich heiße Florent, ich komme von weit her ...«, antwortete der Unbekannte verlegen. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich bin so erschöpft, daß es mir schwerfällt zu sprechen.« Er wollte nicht reden.
Sie schwieg also und ließ die Zügel ein wenig lockerer über Balthasars Kruppe hängen, der seinen Weg wußte und jeden Pflasterstein kannte.
Die Augen auf den unermeßlichen Lichtschein von Paris geheftet, dachte Florent an die Geschichte, die er verschwieg. Aus Cayenne1 entflohen, wohin ihn die Dezemberereignisse2 geworfen hatten, war er zwei Jahre in HolländischGuayana herumgeirrt in dem irrsinnigen Verlangen nach Heimkehr und in der Furcht vor der kaiserlichen Polizei, und nun lag endlich die geliebte, große Stadt, nach der er sich so gesehnt, nach der er so verlangt hatte, vor ihm. Hier würde er sich verbergen, hier würde er sein friedliches Leben von einst führen.
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