Inzwischen hatte sich das Giebelfenster geöffnet; eine kleine alte Frau beugte sich heraus, blickte nach dem Himmel und dann weiter zu den Markthallen hinüber.
»Sieh einmal an! Mademoiselle Saget ist ja früh auf«, sagte Claude, der in die Höhe gesehen hatte. Und er fügte hinzu, sich an seinen Begleiter wendend: »Ich habe eine Tante in diesem Hause gehabt. Das ist hier vielleicht eine Klatschbude ... Ah! Jetzt regt es sich bei Méhudins; im zweiten Stock brennt Licht.«
Florent wollte Fragen an ihn richten, aber er fand ihn besorgniserregend in seinem weiten, verschossenen Mantel; er folgte ihm weiter, ohne ein Wort zu sagen, während der andere von Méhudins erzählte. Sie seien Fischhändlerinnen. Die ältere sei prachtvoll, die jüngere, die Süßwasserfische verkaufe, ganz blond und ähnele inmitten ihrer Karpfen und Aale einer Madonna von Murillo. Und ärgerlich bemerkte er dabei, daß Murillo8 doch wie ein toller Bursche male. Dann blieb er plötzlich mitten auf der Straße stehen:
»Also, wohin gehen Sie nun eigentlich?«
»Ich will im Augenblick nirgendwohin«, antwortete Florent niedergedrückt. »Gehen wir, wohin Sie wollen.«
Als sie aus der Rue Pirouette kamen, wurde Claude von einer Stimme hinten aus dem Laden eines Weinhändlers an der Ecke angerufen. Claude trat ein und zog Florent mit sich. Nur an der einen Seite waren die Fensterläden abgenommen. Das Gas brannte in der noch schläfrigen Luft des Raums; ein vergessener Lappen und Karten vom Abend vorher lagen auf den Tischen herum, und der Luftzug von der großen offenen Tür drang frisch und scharf in den warmen, eingeschlossenen Weindunst. Der Wirt, Herr Lebigre, bediente die Gäste in einer Unterjacke, seine Bartkrause noch ganz zerzaust und sein grobes, regelmäßiges Gesicht ganz blaß vom Schlaf. Männer mit blauen Rändern um die Augen standen in Gruppen vor der Theke, tranken hustend und spuckend und machten sich mit Weißwein und Schnaps vollends wach. Florent erkannte Lacaille, dessen Sack jetzt von Gemüse überquoll. Er war bei der dritten Runde mit einem Kumpel, der lang und breit vom Kauf eines Korbes Kartoffeln erzählte. Als er sein Glas geleert hatte, ging er mit Herrn Lebigre in ein kleines verglastes Gelaß im Hintergrund, wo das Gas nicht angezündet war, etwas besprechen.
»Was wollen Sie trinken?« fragte Claude Florent.
Beim Eintreten hatte er dem Mann, der ihn hereingerufen, die Hand geschüttelt. Es war dies ein kräftiger, gut aussehender Bursche von höchstens zweiundzwanzig Jahren, der rasiert war, nur einen kleinen Schnurrbart trug und fidel aussah mit seinem weiten kreidebeschmierten Hut und seinem Nackenschutz aus Teppichstoff, dessen Gurte seine blaue Jacke zusammenschnürten. Claude redete ihn mit Alexandre an, schlug ihm auf die Arme und fragte ihn, wann sie nach Charentonneau gehen würden. Und sie sprachen von einem großen Ausflug, den sie zusammen in einem Boot auf der Marne unternommen hatten. Am Abend hatten sie dann Kaninchen gegessen.
»Also, was trinken Sie?« fragte Claude von neuem.
Florent sah sehr verlegen auf die Theke. An dem einen Ende wurden mit Kupferreifen versehene Teekannen mit Punsch und Glühwein über den kleinen blauen und rosa Flammen eines Gaskochers heiß gemacht. Er gestand schließlich, daß er gern etwas Heißes zu sich nehmen würde. Herr Lebigre brachte drei Gläser Punsch. Bei den Teekannen stand ein Korb mit Butterbrötchen, die soeben gebracht worden waren und noch dampften. Aber die anderen nahmen nicht davon, und Florent trank sein Glas Punsch; er fühlte das Getränk in seinen leeren Magen hinabfallen wie einen Strahl geschmolzenes Blei. Alexandre bezahlte.
»Ein guter Kerl, dieser Alexandre«, meinte Claude, als sie beide wieder auf dem Bürgersteig der Rue Rambuteau standen. »Bei Ausflügen aufs Land ist er sehr spaßig; er macht Kraftstücke. Außerdem ist er prachtvoll, der Bengel; ich habe ihn nackt gesehen, und wenn er mir Modell stehen wollte im Freien ... Jetzt wollen wir, wenn Sie mögen, einen Gang durch die Markthallen machen.«
Florent folgte ihm und ließ sich völlig willenlos führen. Ein heller Schein hinten in der Rue Rambuteau kündigte den Tag an. Die mächtige Stimme der Markthallen grollte lauter; für Augenblicke durchschnitten Glockenschläge aus einer entfernten Halle diesen rollenden und anschwellenden Lärm. Die beiden betraten eine der überdachten Straßen zwischen der Seefischhalle und der Geflügelhalle. Florent blickte hoch und betrachtete das hohe Gewölbe, dessen innere Holzverkleidung zwischen den schwarzen Kanten der Eisengerüste aufleuchtete. Als er in den großen Mittelgang einbog, mußte er an eine seltsame Stadt denken mit ihren unterschiedlichen Vierteln, ihren Vorstädten, ihren Dörfern, ihren Promenaden und ihren Straßen, ihren Plätzen und ihren Kreuzungen, die aus einer gigantischen Laune heraus an einem Regentage ganz und gar unter einen Schuppen gebracht worden ist. Der in den Ausbuchtungen des Daches schlummernde Schatten vervielfachte den Wald der Pfeiler, dehnte die zarten Rippen, die sich abhebenden Emporen und die durchsichtigen Jalousien ins Unendliche; und über der Stadt bis in die Tiefe des Dunkels hinein war alles ein Wuchern, ein Blühen, ein ungeheuerliches Entfalten von Metall, dessen spindelartig hochsteigende Stämme, dessen sich windende und einander umschlingende Äste eine Welt mit dem anmutigen Laub eines hundertjährigen Hochwaldes bedeckten. Ganze Viertel schliefen noch hinter ihren verschlossenen Gittern. In der Butterhalle und der Geflügelhalle standen die kleinen vergitterten Stände in einer Linie und dehnten sich die menschenleeren Gassen unter den Reihen der Gaslaternen. Soeben war die Seefischhalle geöffnet worden. Frauen schritten über die weißen, vom Schatten der Körbe und liegengelassener Lappen gefleckten Steinplatten. Beim Grobgemüse, bei den Blumen und beim Obst wurde der Lärm immer stärker. Nach und nach erfaßte das Erwachen die Stadt, von dem volkreichen Viertel an, wo sich der Kohl von vier Uhr morgens an aufhäuft, zum trägen und reichen Viertel, an dessen Häusern die Masthühnchen und Fasanen erst gegen acht Uhr aufgehängt werden.
In den großen überdachten Straßen aber strömte das Leben. Längs der Bürgersteige standen auf beiden Seiten noch die Gemüsebauern, kleine Landwirte, die aus der Umgebung von Paris gekommen waren und in Körben ihre Ernte vom Abend vorher ausbreiteten, ein paar Bund Gemüse, einige Handvoll Obst. Mitten durch das unaufhörliche Hin und Her der Menge fuhren die Wagen, den dröhnenden Trapp ihrer Pferde verlangsamend, in die Gewölbe ein. Zwei von diesen Wagen, die man quer hatte stehenlassen, versperrten die Straße. Florent mußte sich, um vorbeizukommen, auf einen der grauen Säcke stützen, die aussahen wie Kohlensäcke und unter deren riesiger Last sich die Wagenachsen bogen. Die Säcke waren feucht und strömten einen frischen Duft nach Seetang aus; einer von ihnen, der an einem Ende geplatzt war, ließ einen schwarzen Haufen großer Miesmuscheln herausrutschen. Bei jedem Schritt mußten sie jetzt stehenbleiben. Die Seefische trafen ein; die Lastwagen folgten einer auf den andern und fuhren hohe Holzgestelle mit Deckelkörben heran, die die Eisenbahn vollbeladen vom Ozean herbringt. Um dem immer dichter und beunruhigender werdenden Gedränge der Wagen mit den Seefischen auszuweichen, flüchteten sie sich zwischen die Räder der Wagen mit Butter, Eiern und Käse, großen gelben vierspännigen Fuhrwerken mit bunten Laternen. Lastträger bemächtigten sich der Kisten mit Eiern, der Körbe mit Käse und Butter und brachten sie in die Versteigerungshalle, wo Angestellte in Mützen beim Schein des Gaslichts in kleine Notizbücher Eintragungen machten. Claude war entzückt von diesem Getümmel; er vergaß alles um sich bei einer Lichtwirkung, bei einer Gruppe Kittel, beim Abladen eines Wagens. Endlich rissen sie sich los. Da sie noch immer die große Straße hinuntergingen, schritten sie in einem herrlichen Duft dahin, der um sie her aufstieg und ihnen zu folgen schien. Sie befanden sich mitten im Schnittblumenmarkt. Rechts und links auf dem Pflaster saßen Frauen, vor sich viereckige Körbe voller Bunde von Rosen, Veilchen, Dahlien, Margeriten. Die Bunde wurden düster gleich Blutflecken und erbleichten sanft in ungemein zarten silbrigen grauen Tönungen. Neben einem Korb brannte eine Kerze und brachte in all das Schwarz ringsum einen gellenden Farbensang, die lebhaften weißen Flecken der Margeriten, das blutige Rot der Dahlien, das Blau der Veilchen, die lebendige Sinnlichkeit der Rosen. Und nichts war süßer und frühlingshafter als die Liebkosungen dieses Duftes, die einem auf dem Bürgersteig begegneten, wenn man aus den scharfen Ausdünstungen der Seefische und dem verpesteten Geruch von Butter und Käse kam.
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