Frédéric Ciriez
Auf den Straßen
von Paris
Roman
Aus dem Französischen von
Hansgeorg Hermann
FUEGO
– Über dieses Buch –
Tagsüber ist er Müllmann, nachts »Sapeur« – ein Mann aus dem Kongo in Dandy-Klamotten. Von morgens bis zum Sonnenuntergang lenkt er seine stinkende Fracht durch das Strassengewirr des 10. Pariser Arrondisments, die Bistro-Tischchen streifend, an denen die Bobos hocken, die Bourgeois Bohèmiens, und fünf Euro teuren Milchkaffee schlürfen. Danach zieht er sich um, für die Parade im gemieteten Rolls Royce – »Sape«, die heißeste Kluft zwischen Nordpol und Kapstadt: Blazer in »elektrisch-grünem Kroko«, knallenge gelbe Hose, kurze Krawatte in Eidechsen-Muster, silbern. Das Altarbild eines flämischen Meisters in grellem Neon. Im Zentrum der Stenz, ihm zur Linken ein depressiver Gewerkschafter am Vorabend des 1. Mai, zu seiner Rechten eine asiatische Straßenverkäuferin auf Rollschuhen.
Frédéric Ciriez macht in Paris das Licht an und zeigt bisher unveröffentlichte Bilder der anschwellenden Hauptstadt. Man trägt Kongo-Mode und spricht edles Gossenfranzösisch. Man ist Mitglied der »Gesellschaft für Unterhalter und elegante Personen«. Die Poesie aus dem Müll ist so selbstverständlich wie die auf Hochglanz gewienerten, handgenähten Lederhalbschuhe.
»Auf den Straßen von Paris« wurde 2013 mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet.
»… Der Roman macht verdammt noch Mal Lust, Ciriez in die Tradition von Queneau, Calet und Perec zu stellen. Die Geschichte vom Müllwagen-Kutscher erlaubt es Ciriez, abzutauchen in die unterirdische, unbekannte Welt des afrikanischen ›Sapeurs‹, der nur für seine Klamotten lebt.«
Transfuge
»… Als aufmerksamer Beobachter des urbanen Alltags wird Frédéric Ciriez zu einem äußerst scharfsinnigen Zeugen des „Infra-Ordinären“ und der prekären Verhältnisse unserer Epoche.«
Begründung der Jury zur Verleihung des Franz-Hessel-Preises
Den wirklichen und ausgedachten
Mitgliedern der Gesellschaft für Unterhalter
und elegante Personen
(chirurgisch: Durchstichverfahren – z.B. bei Amputationen)
Der weiße Xantia steht vor dem Hof für abgeschleppte Autos in Saint-Ouen (93400), es dämmert. Ein Kassenzettel auf dem Beifahrersitz über 14.90 Euro, 20.34 Uhr – der Zeitpunkt, zu dem das Küchenmesser gekauft wurde, das im Herz des Fahrers steckt. Sein Kopf ist auf die Knie gesunken, das Ganze sieht aus wie der Foetus eines jungen Mannes mit kastanienbraunem, gewelltem Haar, der, sozusagen mit sich selbst beschäftigt, am Griff des Messers nuckelt. Das Messer: Eingegraben ins Herz, und nichts wird jemals wieder so hart sein in seinem Leib, nichts hatte jemals eine solche Konsistenz wie diese in die seidenweichen Kranzgefäße versenkte stählerne Klinge. Fleischige Lippen haben sich um die Waffe des Abends gekrampft, tropfend und leblos. (In der Ferne die nervöse Stadt – in den Straßen wird der Samstag Abend eingeläutet, der Frühling sprüht.) Was den Toten anbetrifft, so wartet der in dieser verlassenen, erdfarbenen Straße, dass man ihn abholt, so wie man ein Kind von der Schule abgeholt hätte, das sich weigert, um seine Mutter zu weinen. Über ihm inhaliert der Himmel weißen Rauch, der senkrecht aus der Müllverbrennungsanlage der kommunalen Müllverarbeitung Syctom steigt. Deren Eingang liegt ein bisschen weiter unten in der Straße, in der Nummer 22.
Eine notdürftig verputzte Mauer aus Hohlblocksteinen entlang des Abstellplatzes, auf deren Krone sich Stacheldraht ringelt. Das dahinter ist Paris. Jenseits des Baumarktes Conforama, dem Land, wo das Leben so wunderbar billig ist, erscheinen am Horizont die wie Brustwarzen sich reckenden, beleuchteten Kuppeln der Sacré-Cœur über dem Nordhang des Montmartre-Hügels. Davor, das Industriegebiet ausgrenzend, trägt ein Arm der Seine an diesem Abend jenes Rostrot des Himmels mit sich, das gegenüber am anderen Ufer auch die Spiegelglasfassaden der Bürogebäude reflektieren. Der Xantia steht eingeparkt zwischen einem vergessenen Lieferwagen und einer Skoda-Limousine, 800 Euro zum Ausschlachten. Auf der anderen Straßenseite parken hinter einem Ring aus Mauern so um die 300 illegale Schlitten. Sechs Kameras passen auf und registrieren Sekunde um Sekunde ihre Nicht-Existenz, während in den Rückspiegeln der eingesperrten Wagen Fragmente einer erstorbenen Autowelt aufblitzen – starrer Kühlergrill im Schminkspiegelchen einer Sonnenblende, ein im Nichts eines Wagenfensters sich manifestierendes Nummernschild, ein erloschener Scheinwerfer, eingeschaltet vom Licht der Dämmerung. Eine feine Staubschicht hat diese leblose Gesellschaft überzogen. Kein Kind aus osteuropäischen Gefilden hat sich zu dieser Stunde auf dem ummauerten Gelände eingefunden, um den Mercedes eines Funktionärs im höheren Dienst auseinander zu nehmen, auch kein Lösungsmittelschnüffler. Nur die letzten Wogen der Tageshitze kräuseln noch die Leisten aus Chrom und die Schattenbilder der verwaisten Karosserien.
Plötzlich leuchtet die Westentasche des Toten auf und schickt gedämpftes Summen wie von einer elektrischen Haarschneidemaschine aus. Der kleine Screen eines Mobiltelefons, aufgeladen von Emotionen aus grünflüssigem Kristall, liefert ein die Umstände erfassendes SMS: BIST DU HEUTE ABEND UNTERWEGS? Das künstliche Samsung-Herz, im Telefon eingenistet wie ein Appendix in der Leistenbeuge, erlischt abrupt und lässt seinen Besitzer in der Stille der Straße zurück. Der Tote hat die Augen auf seinen Unterleib gerichtet. Die gleich Schießscharten noch halb offenen Augenlider lassen zwei Strahlen aus blauem Licht passieren. Der Nacken ist gespannt. In den Haaren spielt das letzte Tageslicht. Das Kinn berührt die Stelle, wo sich die Schlüsselbeine treffen. Das auf den Oberkörper gesunkene Gesicht sieht fröhlich aus, und frisch. Die leicht geöffneten, in den Mundwinkeln von weiß getrockneter Spucke bedeckten Lippen küssen den schwarzen, mit drei Nieten aus Stahl verzierten Griff des Messers. Der gedrungene Körper von mittlerer Größe weist auf Ende Vierzig. Unter dem Sicherheitsgurt straffen sich ein heller Anzug und ein weißes Hemd, schwarze Stadtschuhe an den Füßen, dessen einer – wie zur Erholung – auf der Kupplung ruht.
Der Kamin der Verbrennungsanlage streckt sich in den rostfarbenen Himmel. Seine drei Abzugsrohre machen ihn zu einer mehrläufigen Flinte, an die hundert Meter hoch, die mit professioneller Stetigkeit den Wasserdampf aus verbrannter Materie verschießt. Weiße Eruptionen entweichen aus klaffenden Abzugsöffnungen und verflüchtigen sich waagerecht im Nichts der Luft. Warnleuchten aus rötlichem Licht verzieren dieses Industrieorgan wie mit immateriellen Rubinen, pur und unverfälscht im leeren, rostigen Himmel. Einzelne Müllwagen fahren noch auf den Hof der Anlage, um sich vor Anbruch der Nacht ein letztes Mal ihrer Fracht zu entledigen. Die Leute von der Kontrollbereitschaft glotzen unbeteiligt auf ihre Monitoren, die ohne Ende die Filmversion der Wirklichkeit ausstrahlen.
Im Jahr 1884 drückt der Prefekt Eugène Poubelle den Parisern die Benutzung des Mülleimers auf, genannt »Poubelle«. 1896 entsteht die erste Verbrennungsanlage in Saint-Ouen. Der Kamin raucht nur ein paar Schritte entfernt von der Stelle, wo der Tote in einem Sarkophag ruht, der den Namen einer obskuren ägyptischen Göttin trägt, Xantia. Die Materie verbraucht sich. Ihre energetische Verwertung wird manifest in der Produktion von heißem Dampf für Heizung und häuslichen Strom in Paris und Umland (einige Häuserblocks vom Kamin weg verdampft Instinkt, taumelt gemeines Volk im Alkohol, nisten Flüche und feuchte sexuelle Triebe). Es ist noch keine Stunde her, da sah die ziegelrote Sonnenscheibe aus wie ein offener Schließmuskel, wie ein gigantischer Projektor. Die Verbrennungsanlage kennt keinen Sonntag und auch keine Feiertage (Saint Ouen, der Heilige Audoenus, ist der Schutzpatron der Fleischgriller). Das gegenwärtige Zentrum für Energieverwertung namens Syctom, dessen phonetische Nähe zum televisuellen Terminus Sitcom bemerkenswert ist, wurde 1990 gegründet.
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