Er bewegt sich nur, wenn er sich ein neues Glas nachschenkt, nimmt danach mechanisch wieder seinen Platz in der Tür ein, an dieser Kreuzung, wo Gäste aus dem Raum verschwinden, wo neue hereinströmen, die mitgebrachte Flasche in der Hand. Sein Gesicht ist in einem falschen Grinsen erstarrt. Er sieht, wie sie mit Freunden diskutiert, mit Leuten, die im Dienst humanitärer Organisationen in Paris vorbeischauen und ihren Aufenthalt nutzen, um ein paar nette Stunden mit Bekannten zu verbringen. Die heutige Soirée haben sie spendiert, eine Ansammlung aus Alleinstehenden ohne festen Beruf und einigen Ehepaaren. Die Wohnung ist groß und kostet nichts, insofern eine prima Sache. Nur – was feiert man hier eigentlich? Den Frühling vielleicht, oder einfach das kurze Glück eines gemeinsamen Tanzes in diesem ziemlich lahmen Milieu, sichere Abwechslung und einziger schnellbindender kultureller Zement. Verirrt im Höllental / der Held heißt Bob Morane / auf der Suche nach dem Gelben Schatten.
Von Zeit zu Zeit bleibt jemand stehen, flüstert dem einsamen Gast kurz etwas ins Ohr und macht sich wieder davon, ohne bei ihm etwas bewegt zu haben. Sie allein ist es, die ihn interessiert. Gleich wird er zu ihr hingehen. Genau – er wird zu ihr hingehen, zu ihr allein und keiner anderen, auf das überladene Tanzparkett, das durchaus einstürzen könnte – und er wird ihre Hand nehmen. Mit der geht etwas. Sie stammt aus seinem Milieu. Die ist kein Kind reicher Eltern. Keine Komplizierte, keine künftige Unzufriedene, die sich zweimal scheiden lässt, bevor sie sich bei Attractive World einschreibt, dem Web-Treffpunkt für anspruchsvolle Singles. Die weiß, wie man mit Kindern umgeht, wie man das tägliche Leben verkraftet, wie gespart wird, wie man Pläne macht. Die wird ihn nicht wie einen Hund behandeln. Er wird hingehen, ihre Hand nehmen, sie werden über die Wellen dieses kaputten Parketts tanzen. Genau wie in dem Film Carrie au bal du diable , aber ohne den letzten schlechten Scherz, wo ihnen die Leute von der Kulisse aus einen Eimer Schweineblut über die Köpfe kippen, aus reiner Boshaftigkeit. Gleich wird er zu ihr hingehen. Er wird seine Karten aufdecken und das Schicksal wird seinen Lauf nehmen. Sucht den Jungen / findet seinen Namen.
… weil nämlich Freundschaft, Brüderlichkeit und Einigkeit das Leben sind. Die Ehemaligen der »14« wissen das genau, sie wurden alle im Geist des laizistischen und internationalistischen Judaismus erzogen, in dem Kameradschaft und Solidarität zählen. Patenschaften sorgten dafür, dass sie im Sommer in Ferienkolonien verschickt wurden, dass ihre Betreuung intellektuelle Qualität hatte, und dass sie mit einer kollegialen und fortschrittlichen Sicht der menschlichen Existenz aufwuchsen. Leicht kann sich einer vorstellen, mit welcher Sorgfalt man sich nach dem verheerenden Krieg der Jüngsten annahm, nicht nur um eine traumatisierte Gemeinschaft wieder aufzurichten, sondern auch, um den völlig mittellosen Familien beizustehen und die Waisen zu beschützen. Die in der ganzen langen Geschichte der »14« herrschende Sorge um die Kinder zeigte sich nicht nur darin, welch großes Gewicht der Erziehung allgemein zugemessen wurde, sondern auch im Respekt gegenüber den von den Ehemaligen nicht nur einfach Lehrer sondern »Pädagogen« genannten Erziehern – Frauen und Männer, die bei der Ausbildung ihrer jungen Schüler auf avantgardistische Lehrmethoden bauten …
Er steht wie festgenagelt, das Grinsen geliftet vom Mund bis an die Ohren. Hat sich noch einen Punsch eingeschenkt, schwenkt ihn hin und wieder im Glas, betrachtet die wirbelnden Bananenscheibchen und Mandarinenstückchen. Der Punsch ist gepfeffert, mit Zimt gewürzt, intensiv. Das ist es aber nicht, was ihm Angst macht, eher wird er durstig davon. Obwohl er nie ein regelmäßiger Trinker war, seine Lehre hat er bei großen Meistern absolviert – bei einem Kumpel von der Kriegsmarine, den er ganz nüchtern »Seemann« nennt, und dessen wichtigstes Gesellschaftsspiel das Niedermachen einer Flasche Ricard ohne Wasser verlangt, was man sich erst mal vorstellen muss … Kurz, mit Kameraden solchen Stehvermögens wird er sich wahrlich nicht vor diesen dünnblütigen Schätzchen hier fürchten.
Eine elektrische Lichterkette hängt in Wellen an der Wand zu seiner Rechten. Eine lange, schmückende Plastikgirlande, die alle zwei Sekunden aufblinkt. Wie hypnotisiert glotzt er auf diese lebendige Abwechslung, die mit ihrem Licht die Gäste bespritzt, diese eine, die mit dem Blumennamen, die er gleich zum Tanz auffordern wird, er weiß es, er muss es, er fühlt es: Licht an, Licht aus / Licht an, Licht aus – sowieso wird alles aus sein, eines Tages … Normalerweise sind die Girlanden für Weihnachten gedacht, und für die Belichterung der Läden in den Straßen. Diese hier lockert die Wand in der 14, rue du Paradis, etwas auf, an einem Abend, der wärmer ist als normal. Ein, aus / ein, aus … Vorher noch eine stimmungsvolle Brise Blinklichterei. Wochenende in Rom / wir zwei ohne sonst jemanden / Florenz, Mailand / falls die Zeit reicht / Spaghettifresser-week-end / im Angeberschlitten / Melodramen aller Art / Spaghettifresser-week-end .
Plötzlich zieht er los, geht auf das Mädchen zu. Der Raum schwitzt. Die Mauern reden irre. Er schubst die Leute. Sein Herz schlägt bis zum Hals, heult auf – wie etwas, das man gerne zum Schweigen bringen würde. Er durchbricht eine Hecke aus Tänzern, kommt ganz in ihrer Nähe an. Und hier ist sie, die Blume, anwesend, sowas von anwesend, mit zwei Freunden, die spontan einen Meter zur Seite treten, um die Verheißene herum die Spitzen eines Dreizacks bildend (instinktiv wohl, um eine der ihren vor einer konfusen und stummen Bedrohung zu schützen). Er wagt sich etwas weiter vor, beige unter all den Schatten. Den Blick auf die Füße der jungen Frau gerichtet sieht er die weißen Pumps, zittert. Er hebt den Kopf. Sie erkennt ihn (seit einer Stunde sieht sie doch nur ihn). Und du, sag mir, dass du mich liebst / auch wenn das eine Lüge ist / und wir keine Chance haben . Seine Fingerchen suchen ihre Hand, zum Tanzen. Das Leben ist so traurig / sag mir, dass du mich liebst / alle Tage gleichen sich / ich brauche ein bisschen Romantik . Aber das Mädchen mit dem Blumennamen fährt zusammen beim Hautkontakt, bedeutet ihm vorsichtig ein Nein mit dem Kopf, taktvoll / trostlos / ängstlich, dreht ihm den Rücken zu und nimmt ihr Gespräch wieder auf.
… als wäre er in einer sentimentalen Schachpartie mit dem ersten Zug matt gesetzt worden, ein Stück, das vielleicht im Keller des »14« hätte gespielt werden können, auf der winzigen Bühne des Theaters Symposium, bevor es aus Sicherheitsgründen geschlossen wurde. Die Meinungen gehen übrigens auseinander, wann das Theater gegründet wurde, vermutlich Mitte der 90er Jahre. Wie auch immer, möglich gemacht hatte es die ehemalige Sekretärin der Union der Juden für Widerstand und Zusammenarbeit – eine Polin, wie es scheint – die immer bereit war, den Genossen aus dem Osten auf die Sprünge zu helfen, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Tatsächlich und traurigerweise ist der Ort heute eine Art Squat und Bar für Illegale, ein Resultat übermäßigen Vertrauens den Russen gegenüber …
Er schaut zu, wie sie den Saal durchquert und sich an der Tür zum Salon in Sicherheit bringt, genau dort, wo er selbst sich zu Beginn aufgestellt hatte. Sie haben nur die Positionen gewechselt. Er himmelt sie wieder an, aber nur ihren Rücken, weil sie ihn aus ihrem Sichtfeld verbannt hat, sie schwingt jetzt das Tanzbein. Er hat versagt. Dreht den Kopf weg. Lehnt sich aus dem Fenster, Luft schnappen, schaut hinunter in die rue de Paradis, feucht / schweigend / vollgestellt mit schlafenden Autos.
… völlig verloren in Paris, die jungen Slawen; bieten ihren Besuchern torkelnd Wodka an, gehen mal eben zum Spätkauf um die Ecke, den Biervorrat auffüllen. Manchmal geht das in Ordnung, manchmal nicht. Der Schuppen ist in grausigem Zustand, die Küche ein Drecksstall, das totale Spektakel. Begegnung mit dem Künstler wahrscheinlich, dem Poeten, selbstverständlich Dissident, der das Pseudo-Theater hier lenkt. Er singt / komponiert / bildhauert / malt / schreibt, ist in Moskau bestens bekannt. Alexeï Khvostenko heißt er, genannt Khvost – russisch für »Schwanz«. Im Moskauer Untergrund ist er ein Star: einige halten ihn für einen russischen Rock-Pionier, für so einen wie die großen, rebellischen Schriftsteller seiner Generation. Die Frauen umschwirren ihn wie Motten, er hat die Psychiatrische Anstalt von innen kennengelernt, wegen »Schmarotzertums«, musste nach Paris emigrieren und gibt seither den Künstler im Land des Poeten-Frühlings. Khvost ist ein Riese, vollständig in schwarzes Leder gehüllt und muss so um die 60 Kilo wiegen – Wodka und Dope. Er starb 2004, nicht an einer Überdosis im Keller des »14« sondern in einem Moskauer Krankenhaus an Lungenentzündung, nachdem das Putin-Regime seine Rückkehr genehmigt hatte. Die jungen Russen kennen seine Gedichte und seine Lieder auswendig, ein paar galten zu Breschnews Zeiten als ziemlich subversiv: Der Arbeiter hat nur zu arbeiten / genau wie derjenige, der kein Arbeiter ist / Soll doch der, der arbeiten will, arbeiten / Ich jedenfalls will nicht arbeiten.
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