* * *
Dienstag, 16. April, 23.10 Uhr
Er fährt vom Parkplatz des Leclerc-Supermarkts in Clichy, hat sich dort mit Nahrungsmitteln und Benzin für die ganze Woche versorgt. Er schaltet sein Autoradio an und stellt France Culture ein, Kanal 93.5, auf dem die Sendung Récit B beginnt, die er regelmäßig hört. Angekündigt ist eine Programmfolge zum Thema »Beschleunigung«, die bis zum Monatsende dauern soll. Er hat sein Fenster heruntergelassen, raucht, rollt mit 55 km/h über den Boulevard Victor Hugo. Er hat’s nicht eilig. Keiner wartet auf ihn.
… eines Sonntags im September 1989 zerreißt ein Motorradfahrer mit dem Künstlernamen Prince Noir die Stille der Morgendämmerung, er schafft den Pariser Stadtautobahnring Périphérique in elf Minuten und vierzehn Sekunden. Eine Suzuki GSX-R-1100 reitend, umständehalber frisiert, rast er mit 192 Stundenkilometern Durchschnittsgeschwindigkeit, an manchen Stellen mit 250 km/h, über die gut 35 Kilometer lange Strecke. Für die Nationalpolizei ist der Rekord die reine Provokation, sie will den Fahrer enttarnen, indem sie die Motorradszene unterwandert. Vergeblich … Die Performance führt allerdings ein wenig in die Irre: Ist sie, wie es gerüchteweise heißt, von den Sensationsjournalisten des privaten Fernsehkanals La Cinque auf der Suche nach einem knallharten scoop in Auftrag gegeben worden, oder ist sie die Meisterleistung eines narzisstischen Performers? Über die mögliche medienwirksame Manipulation eines Typs, den seine Motorradkumpel »Pascal« nennen, gehen die Meinungen auseinander …
Der Mann in der Xantia hält besonnen seine Position auf der Mittelspur. Er muss nicht überholen. Seine Hände liegen entspannt auf dem Lenkrad, in Kontrollposition. Mit der Linken sucht er nach der Fensterautomatik, er braucht etwas mehr Luft. Dann schmiegt er sich noch tiefer in den Sitz, entspannt die Beine, beugt den Kopf zurück, lässt ihn auf der Nackenstütze ruhen, relaxt.
… Erfahrene Motorradfahrer sind sich einig, dass diese Todesfahrt über den Périphérique im Jahr 1989 keine große Nummer war. Nicht nur war die Zahl der Fahrer, die ein Motorrad mit dieser Geschwindigkeit steuern konnten, zu der Zeit Legion, nein – ein guter Fahrer mit einer prima Rennmaschine hätte das leicht besser machen und die Zeit unter zehn Minuten drücken können. Die »Heldentat« des Prince Noir lässt vor allem die Eitelkeit eines simplen Rasers erkennen, der es lediglich geschafft hat, die Aufmerksamkeit der Polizei auf die Biker-Gemeinde zu lenken. Der Schwarze Prinz ist 2012 fünfzig Jahre alt geworden und ist gegenwärtig Objekt eines Mikro-Kults im Web. Wie übrigens auch der schwedische Fahrer »Ghost Rider«, der 2004 als Hommage an den französischen Performer den Périphérique in neun Minuten und sechsundfünfzig Sekunden auf einer Honda Hayabusa schaffte – Wanderfalke auf japanisch, ein für seine außerordentliche Fluggeschwindigkeit bekannter Raubvogel. Ghost Rider, dessen hauptsächliches Steckenpferd die Provokation der Ordnungskräfte auf schwedischen Autobahnen ist, gilt heute als der unangefochtene Meister des Geschwindigkeitsterrors im öffentlichen Straßenverkehr …
Der Fahrer hat vor einer roten Ampel angehalten. Es ist schön heute Abend. Die Luft ist warm, subtil. Das Thema der Sendung macht ihm Spaß. Wenn er die Xantia jetzt in der Tiefgarage parkt und zu sich in die Wohnung hochsteigt, wird er allerdings die Sendung Recit B für einige Zeit verlieren. Die Ampel springt auf grün. Statt nach rechts abzubiegen, Richtung Wohnung, fährt er links ab und auf die Porte de Clichy zu, dann verschwindet er gegen den Uhrzeigersinn auf dem Périphérique.
* * *
Dienstag, 30. April, 18.40 Uhr
Er irrt durch die Straßen von Enghien-de-Bains. Die Sonne verbrennt alles. Die Stadt hat keinen Schatten, ist strahlenkrank. Seine Haare kräuseln sich in der warmen Luft des Gebläses. Zweiter Gang, dritter. Er verlässt ein Wohnviertel, nähert sich dem Casino. Das Autoradio ist stumm. Die Fensterscheiben sind wasserdicht. Er ist auf Tauchfahrt durch das Nichts (es erwartet ihn eine Sache, die jede Motorik ausschließt, jede Fortbewegung, jedes Bedürfnis). Seine letzten Gewerkschaftsakten hat er zu Hause gelassen. Er treibt, wartet im hellen Sonnenschein auf das Ende der Nacht. Er fährt mit ernstem Eifer, wie ein Fahrschüler an der Seite eines Prüfers, respektiert alle Geschwindigkeitsbegrenzungen. Seine Artgenossen überholen ihn. Von Zeit zu Zeit verschwimmt ihm der Blick, er gähnt. Um ihn herum tobt das Leben. Vierter Gang. Er umrundet den See von Enghien und schickt sich an, in Richtung Saint-Denis zu fahren, die Hagiographie des 272 enthaupteten Schutzpatrons von Paris geht davon aus, dass der Heilige, den Kopf unterm Arm, von Montmartre sechs Kilometer bis zum heutigen Standort der Basilika marschierte. Die See glitzert, ist bedeckt mit Booten. Erschreckt schaut er auf sein Telefon, das ihn soeben fragt WAS MACHSDU HEUTE ABEND SUPER FETE KOMM, genau in dem Moment, als er an einem Müllwagen vorbeifährt und glaubt, dass er den Fahrer kennt, dessen Arm da aus dem Wagenfenster hängt. Nein, es ist nicht der Freund, der ihm gerade eine SMS geschickt hat. Warum sollte es der auch sein? Warum sollte er hier Seite an Seite in Enghien-les-Bains mit einem Kumpel stehen, der ihm vorschlägt, heute Abend zusammen auszugehen, wenn der gerade den Dreck von Paris einsammelt?
* * *
Montag, 22. April, 11 Uhr
Sie verlässt die Agentur Elite, steigt die Treppen der Nummer 8b, rue Lecuirot hinunter, eingehüllt in ein Kleid aus jungfräulichem Mousseline und die Aura der Jugend. Die Frühlingsluft ist ausschweifend warm, der Treppenschacht feucht wie ein Brutkasten. Das Mannequin passt ängstlich auf, bei jeder einzelnen Stufe, ein falscher Schritt könnte ihr die Knochen brechen. Ihre Hand, so mager wie die Arme, gleitet über das Geländer. Das ist vielleicht ein neumodisches Hochzeitskleid, das sie trägt, oder eine Garderobe für den Abend, die ihr auf den Gliedern flattert. Ihre fahrigen Gesten, die ruckartigen Bewegungen, lassen sie aussehen wie eine Gliederpuppe. Jeder Schritt wird zum Drama. Er sieht sie kommen. Er zeigt sich ausnahmsweise in einem schwarzen T-Shirt City of lights, und in Erwartung der Begegnung hämmert sein Herz bis zum Hals. Da ist sie nun, auf gleicher Höhe. Sie schätzen sich ab. Sie trägt keine Sonnenbrille, er auch nicht. Sie hat meerblaue Augen, genau wie er. Augen so abgrundtief und grau wie das wilde Meer. Ihr hageres Gesicht betont im Übermaß die feinen Linien – diese Augenbrauen wie Arkaden, die Wangenknochen, Kiefer und Zähne hinter leicht geöffneten Lippen. Er selbst ist ziemlich stämmig. Vielleicht weil es sie drängt, seine Haut zu berühren, hebt sie vorsichtig die Hand und beginnt, sein Gesicht zu streicheln. Ihre Finger streifen leicht die Schläfen, wandern abwärts – die Augenlider, der Nasenrücken, der Cupido-Bogen, die Lippen, dann die Wangen, Kiefer, Kinn. Er bewegt sich nicht, wird zärtlich gekratzt. Hat jemals eine Unbekannte sein Gesicht gestreichelt? Niemals. Seine Arme sind steif. Sie schaut ihn an wie eine Offenbarung. Sie hat ihn wiedererkannt. Er ist ihr Spiegel und ihr Messias. Auch er hat sie erkannt. Sie ist sein Schrecken. Sie lässt die Hand sinken, drückt sie auf den Plexus, auf das Feuer. Beider Augen sind transparent, widerstandslos. Doch dann fühlt er sich bedrängt, will sich aus dem Staub machen. Sie zieht heftig ihre Hand zurück, lässt ihn in Frieden, und da ist es zu Ende, weil alles zu Ende geht, sie steigt wieder abwärts und er steigt hinauf. Sie ihrer müßigen Freiheit entgegen, er zu seinen sinnlosen Pflichten.
* * *
Dienstag, 16. April, 23.22 Uhr
Er kutschiert gemächlich über den Périphérique und nähert sich mit 63 km/h der Porte de la Muette, es läuft immer noch Récit B auf France Culture. Draußen sind es 21 Grad Celsius. Auf dem Radiopaneel leuchten rot die Ziffern 93.5 FM. Eine elektrische Signaltafel über der Straße zeigt an: »Périphérique Verkehr flüssig.« Wie ein Festzug reihen sich die weißen, satellitenvernetzten Leuchtfeuer um den Pariser Ring und ihr mildes Spektrallicht vermählt sich mit der im Radio dokumentierten Zeugenaussage Christians – 50 Jahre alter, ehemaliger Stuntman, gegenwärtig Requisiteur für Kino-Spezialeffekte, seit sechsundzwanzig Jahren Teilzeitbeschäftigter für Schauspiel und Theater, der sich mit dem Thema Beschleunigung auskennt.
Читать дальше