Vorbei am muslimischen Fischerfriedhof kommt man in das afrikanische Viertel der Fischer, die Frauen haben den Fang zerlegt, gesalzen und zum Trocknen auf Holzgestelle gelegt. Hier herrscht in zahllosen kleinen Moscheen Serigne Touba, die Bruderschaft der Mouriden. Das Leben auf der Insel im Fluss ist bestimmt von der französischen Kolonialarchitektur mit dem Charme des Verfalls, hier steht die erste Kathedrale auf afrikanischem Boden, hierher kamen die ersten Nonnen, hier finde ich auf Marmor am Eingangsportal so einfache und darum so schockierende Forderungen: Bevor du hier eintrittst – Va d’abord te réconcilier avec ton frère! – versöhne dich erst mit deinem Bruder! Celui qui manque trop du pain quotidien n’a plus aucun goût au pain de Jésus-Christ – Wer allzu sehr des täglichen Brots ermangelt, hat keinen Appetit mehr auf das Brot Christi!
Auf der Nordhälfte der Insel, hinter den baumbestandenen Alleen mit den restaurierten belgischen und französischen Konsulaten, ist afrikanisches Leben in die Welt hinter den Fassaden eingezogen, in den Innenhöfen Lehmhütten und Brunnen, Tiere, die um die Wäsche streifen, spielende Kinder unter Bäumen. Ich ziehe weiter über den pont Faidherbe auf das gegenüberliegende Festland nach Sor, will unbedingt den alten Kolonialbahnhof sehen. Wie so oft frage ich mich, warum ich das alles hier mache, mein Leben lang gemacht habe. Ein Gedanke hat sich festgesetzt, vielleicht all das, weil mein ›Onkel Adi‹, Freund meiner geschiedenen Mutter, Afrika-, Indien- und Amazonasforscher, nicht mein ›Vater‹ hat werden können, ihm, der bedingungslosen Liebe des Kindes, habe ich immer folgen wollen, habe immer in der Fremde Väter gesucht. Der Bahnhof, lange schon stillgelegt, ist arg heruntergekommen, aber wunderschön, davor ein lebhafter Markt, die Händler haben Wartehalle und Schienengelände vereinnahmt, auf dem Bahnsteig brodelt das Leben der Familien, eine Rückeroberung. Der pont Faidherbe aber rostet gefährlich, über den Eisenträgern der Fußgängerspur liegen dünne alte Holzbretter, viele sind zerbrochen oder in den Fluss gefallen, so dass wir auf den Trägern über den Fluss balancieren müssen.
Auf dem Rückweg spricht mich ein vielleicht 30-jähriger Mann an, er arbeitet als Fischer für einen patron, seine Eltern sind tot, als einziger Mann ist er für fünf Töchter und unverheiratete Schwestern verantwortlich. Das Vermögen für die Verheiratung der Schwestern aufzubringen ist für ihn eine untragbare Bürde, er verdient viel zu wenig. Sein Verdienst von 2.500 FCFA reicht gerade aus, dass er eine Zigarette am Tag für sich hat. Jetzt hat er Syphilis in fortgeschrittenem Stadium, fühlt sich immer schwächer, bräuchte Antibiotika für 20.000 FCFA, zeigt mir die Anweisung des Arztes. Diese Summe kann er nicht aufbringen, er muss arbeiten gehen, kann aber nicht mehr, sieht keine Chance auf Behandlung, da es weder Kranken- noch Sozialversicherung gibt, der patron hilft ihm nicht. Er bittet mich, die Kosten für die Behandlung zu übernehmen, ich schlage ihm vor, das Geld aus Deutschland schicken zu lassen, er solle seine Adresse aufschreiben und bei Nicole abgeben. Er hat es nicht getan.
An der gare routière geht ein Wagen mit 7 Plätzen Richtung Rosso in Mauretanien, unterwegs liegen etliche verbeulte oder ausgebrannte Wagen. Die Frau neben mir hat 10 l Dickmilch mitgebracht, beugt sich mit ihrem voluminösen Bauch ächzend nach unten und säuft wie eine Kuh aus dem Eimer, wir alle müssen probieren. Die Straße wird immer schlechter, in Flussnähe schlingern wir durch den Matsch bis zur Grenzstation. Da drüben ist Mauretanien, der Ponton liegt in der Strömung fest, also springe ich zwei Meter tief mit dem Gepäck in die überfüllte Pirogue. Einige Meter vor dem anderen Ufer läuft das Boot auf, also das Gepäck über Kopf und bis zu den Rippen im Wasser durch den Fluss auf den Strand, wo mich der Grenzbeamte breitbeinig, die Arme in die ausladenden Hüften gestemmt, schon erwartet.
Auch hier eine neue Facette, Entwürfe eines Lebens auf diesem ›Traumpfad‹, ernsthafte, gut vorbereitete Entwürfe, die gelebt sein wollen in dem Drang, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, keine Lügen, ein Spiel der Splitter im Kaleidoskop, Gier nach 1001 Leben, auch das ist Überleben
Passkontrolle, Einwanderersteuer, Eintragen in das große Buch der immigrants, dann die Devisenerklärung, mangels Formularen wird sie auf einen fettigen Zettel geschrieben. Eine alte Pappe wird auf den Sand gelegt, alle Männer der Umgebung bilden einen Kreis um den Zöllner und mich, und nun muss ich alle meine Zahlungsmittel ausbreiten. Der Zöllner hat die größte Mühe, die Summen zu addieren, die Männer stehen staunend, murmeln, das haben sie noch nicht gesehen. Billige Unterkunft gibt es im Obergeschoss des ›Restaurant du Fleuve‹, als ich in dem Zimmer stehe, bin ich doch erschrocken. Drei durchlöcherte Matratzen mit dem immer gleichen mauretanischen Muster liegen auf dem unglaublich schmutzigen Boden, die Fensterscheiben sind zerbrochen, die am Draht aus der Decke hängende Glühbirne ist kaputt, das Bad besteht nur noch aus Keramikbruchstücken und einer stinkenden Kloschüssel, immerhin handele ich den Preis um die Hälfte herunter, in Rosso gibt es kaum Alternativen. Der Ort riecht nach Krankheit und Verwesung, überall liegen tote Tiere am Straßenrand, Schafe, Ziegen, auch Pferde. In einem Geschäft mit Tischen und Stühlen gibt es Früchte und Milch, abstrus in diesem Elend ein großes Marlboro-Plakat mit seinem lonesome cowboy. Wie immer scharen sich die jungen Leute um mich und mein kleines Notebook, ich erkläre es ihnen auf arabisch, sie dürfen ihren Namen eingeben, sind verwirrt, dass man ihn speichern kann, suchen den Speicher. Aus einem Radio klingt maurische Musik, alle singen mit.
Bei der Abfahrt des Wagens Richtung Nouakchott betet der Fahrer laut, alle fallen ein, la allah illa allah. Die Männer sind neugierig, hier bin ich die Archäologin, die über die Geschichte der Mauren arbeitet, beifälliges, stolzerfülltes Gemurmel, alles gehört für sie dazu, der Rucksack, das Notebook, die Lesebrille, die Männerhosen. Die Fahrt ist die Hölle, 23 Menschen sitzen auf einer 15 cm tiefen Bank mit 8 Plätzen, ich weiß nicht wohin mit den Beinen. Penibel sind die vielen Militärkontrollen, nur ich werde immer aus dem Wagen herausgeholt. Vor Nouakchott liegt in der Lehmhütte am Straßenrand der Offizier neben der Straßensperre auf einer Matratze malerisch ausgestreckt, um ihn herum Essensreste, Teegeschirre, ein Feuerchen, er genießt die Gelegenheit, seine Willkür auszuleben, strahlt mich während des ausgiebigen Verhörs an. Der Sand wechselt seine Farbe von rot in ocker, vor Nouakchott ist er fast weiß, mir stockt der Atem angesichts der Kamelherden, der hellen maurischen Zelte mit den blauen Ornamenten.
Im knöcheltiefen Sand der Hauptstadt schlage ich mich durch zur ›Auberge de Jeunesse‹ im Zentrum. Vor der kleinen Herberge verspricht ein freundlicher junger Mann einen hohen Geldumtauschkurs mit offizieller Devisenbestätigung. Wir gehen in den Grand Marché, er gibt sich sehr verschwörerisch, nimmt meine 1.500 FF und verschwindet. Nach einigen Minuten kommt er tatsächlich mit Bündeln von Ugiyya wieder, versucht, den Kurs zu drücken, das aber nicht mit mir, dann verlange ich das Wichtigste, die Devisenerklärung. Er schreibt meinen Namen auf, verschwindet wieder, sein Freund bleibt bei mir, beruhigt mich, tatsächlich kommt er auch diesmal wieder, das Papier sieht echt aus, stellt sich später als Fotokopie eines amtlichen Formulars heraus, der Stempel als Phantasieprodukt. Wohin jetzt mit dieser monströsen Geldrolle? Die Beiden verschwinden sofort in den Winkeln des Marktes, gottlob kenne ich den marché noch gut und finde wieder heraus, rette den Packen Geld in die Herberge und ziehe Bilanz.
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