Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand fest auf die Augenlider, strich dann in Richtung Nasenwurzel. Vielleicht bin ich doch müder, als ich dachte, gestand er sich ein. Als er die Augen öffnete, tanzten kleine glänzende Pünktchen in der Luft.
Es war angenehm, sich von Lars fahren zu lassen. Er fuhr sicher und gleichmäßig. Die mehrspurige Europastraße führte in der Regel an den Ortschaften vorbei. Sie lag schnurgerade vor ihnen und war fast kilometerweit einsehbar.
Sven Lundquist warf einen prüfenden Blick auf den Tacho – und konnte ihn nicht sehen!
Schnell schloss er die Augen und öffnete sie wieder.
Es änderte sich nichts!
Er konnte nicht mehr richtig sehen!
Als würden sich einige Bereiche einfach ausblenden.
Blind, schoss es ihm durch den Kopf, jetzt werde ich blind!
Der Schweiß brach ihm aus und er spürte seinen rasenden, hämmernden Puls.
Es ist bestimmt nur ein Konzentrationsproblem, versuchte er sich zu beruhigen, ich bin sicher nur etwas übermüdet!
Es wird vergehen!
Sein Atem ging stoßweise und die Finger hatten sich schmerzhaft in die Oberschenkel verkrallt. Lundquist bemühte sich um eine ruhigere und bewusstere Atmung. Zählte langsam bis zehn. Ein lautes Rauschen breitete sich in seinem Kopf aus, überflutete sein Denken. Die Augen hatte er fest geschlossen und sich so weit in seinem Sitz zurückgelehnt, wie es ihm möglich war.
Knysts Stimme, die ihn dem Tonfall nach wohl etwas fragte, schien von weit her zu kommen, war seltsam körperlos.
Allmählich gelang es ihm seine Reaktionen wieder zu kontrollieren. Als er seine Angst niedergerungen hatte und die Augen aufschlug, war der große blinde Fleck einer Art waberndem Nebel gewichen. Schon besser. Lundquist atmete erleichtert tief durch, spürte, wie das Zittern, das seinen Körper erfasst hatte, nachließ. Wie bei den vielen früheren Attacken war zwar nicht mit einem Augenaufschlag alles vorbei, aber es besserte sich. Hysteriker, beschimpfte er sich leise, verfluchter Hysteriker! Wenn er sich konzentrierte, konnte er durch die Nebelbänke hindurchsehen – oder doch relativ gut hindurchahnen.
Er bemerkte, dass sein Freund den Wagen in einer Parkbucht zum Stehen gebracht hatte und ihn voller Sorge ansah.
»Nur ein bisschen übel«, versuchte er eine lahme Erklärung. »Ich hatte damit in letzter Zeit häufiger zu tun. Es ist gleich wieder weg.«
»Komm, wir gehen ein paar Schritte. Dann wird dir vielleicht besser!«, forderte Lars ihn auf.
Sven Lundquist löste mit steifen Fingern seinen Gurt. Er fühlte sich ungewohnt schwach und brauchte alle Kraft, um die Tür aufzustoßen. Mühsam hievte er sich aus dem Wagen, drehte sich um und stützte sich mit beiden Händen schwer atmend auf dem Wagendach ab, weil er sich nicht sicher war, ob seine weichen Knie ihn zuverlässig tragen würden.
Lars war auch ausgestiegen und kam zur Beifahrerseite hinüber. »Vielleicht hast du was Komisches gegessen? Oder du kriegst jetzt eben auch die Grippe.«
»Nein. Nein, ich glaube nicht. Es ist sicher gleich wieder ganz in Ordnung – kein Grund zur Sorge«, behauptete Lundquist mit mehr Zuversicht, als er tatsächlich empfand. Er hörte selbst, wie schwach und instabil seine Stimme klang und bemühte sich rasch um ein zuversichtliches, beruhigendes Lächeln.
»Lass uns den Weg bis zum See hinunter gehen. Eine kleine Pause wird uns beiden nicht schaden!«, schlug er vor, und bereitwillig schloss Lars das Auto ab, nicht ohne ein letztes Mal liebkosend über den Lack zu streichen.
»Was! In dem Ferienhaus war eine Leiche versteckt? Und sie hat die ganze Zeit dort gelegen, während wir in dem Sommarhuset Urlaub gemacht haben? Ein Leichnam?« Die Frau schrie fast, und ihre kippende Stimme klang unangenehm schrill.
Sie saßen im Wohnzimmer der Familie Pattersson.
Der Raum war kühl und elegant eingerichtet. An den makellos weißen Wänden hingen grellbunte moderne Bilder, die, so weit Lundquist das beurteilen konnte, allesamt Originale waren. Auf dem Boden aus hochglänzenden Landhausdielen lagen bunte Teppiche mit abstrakten Mustern. Die Möbel waren aus hellem Holz mit chromblitzenden Gestellen. Die schwere Glasplatte des Couchtisches ruhte auf einer dicken Metallkugel, ähnlich einer Kanonenkugel. Nichts in dem Zimmer deutete darauf hin, dass es von einer vierköpfigen Familie bewohnt wurde. Alles wirkte steril und völlig unpersönlich.
Selbst die Glasplatte war frei von den Abdrücken schmutziger, klebriger Kinderhände. Erstaunlich, dachte Lundquist, dessen Töchterchen überall an den Möbeln seiner Wohnung Spuren aus den unterschiedlichsten Stufen ihrer Entwicklung hinterlassen hatte.
Herr Pattersson legte beruhigend seinen Arm um die Schultern seiner Frau und warf Lundquist dabei einen bitterbösen Blick zu, so als sei der Hauptkommissar persönlich für diese ungeheuerliche Situation verantwortlich.
Seltsam ungleiches Paar, schoss es Lundquist durch den Kopf, als er sie auf dem weichen, weißen Ledersofa sitzen sah. Beide sehr gepflegt und modisch gekleidet; doch während Frau Pattersson eine große, schlanke und energische Erscheinung war, wirkte ihr Mann eher klein und knubbelig. Die Weste seines Designeranzugs hatte Mühe damit, seinen vorquellenden Bauch zurückzuhalten, die hellbeige Hose spannte über seinen dicken Oberschenkeln und während er sprach, fuhr er ruhelos mit seinen Patschhändchen über den edlen Stoff.
Die Beschützergeste des Ehemannes wirkte fehl am Platz, irgendwie falsch. Möglicherweise entstand dieser Eindruck dadurch, dass er sich angestrengt strecken musste, um die Schultern seiner Frau erreichen zu können.
»Tja, es sieht wirklich so aus«, bestätigte Knyst, und Lundquist, der glaubte einen genussvollen Unterton in seiner Stimme mitschwingen zu hören, unterdrückte ein Grinsen. Es war deutlich zu spüren, dass Knyst die beiden nicht mochte.
»Wie gut, dass die Kinder die Stange nicht finden konnten, mit der man die Bodenklappe öffnen kann! Stellen Sie sich nur vor, die beiden hätten beim Spielen die Leiche entdeckt!« Frau Pattersson schauderte, als sie sich diese Situation deutlicher auszumalen begann.
Knyst verzichtete darauf der Mutter zu erklären, dass eine fehlende Stange mit Haken die Kinder sicherlich nicht vom Stöbern auf dem Dachboden hatte abhalten können. Schließlich konnte man die Öse mit Hilfe eines Stuhls problemlos erreichen. Wenn sie tatsächlich nicht auf dem Dachboden waren, dann sicher nur deshalb, weil sie ein interessanteres Spiel gefunden hatten. Er schüttelte nachsichtig den Kopf.
Manche Eltern waren wirklich naiv.
»Wir würden die Kinder gerne dazu befragen«, begann Lundquist vorsichtig tastend und setzte hinzu, als er den aufbrodelnden Protest der Eltern bemerkte, »ganz vorsichtig natürlich und nur, wenn ihr damit einverstanden seid! Wir werden dabei das Todesopfer nicht erwähnen.« »Ich verstehe ohnehin nicht, was wir mit der Leiche zu tun haben sollen! Wie kam die überhaupt dort hin? Wieso kommt die Polizei eigentlich ausgerechnet zu uns?«, wollte Herr Pattersson wissen.
»Am wahrscheinlichsten ist doch wohl, dass die Leiche dem Hausbesitzer gehört, wie der gesamte Rest auch!«, erklärte seine Frau.
»Ihr habt dort gewohnt. Wir überprüfen nun alle Familien, die ihre Ferien in dem Haus verbracht haben. Und wie die Leiche auf den Dachboden gelangt ist, wissen wir noch nicht, genauso wenig wie durch wen. Vielleicht ist euch ja irgend etwas aufgefallen?«
»Nein!«, beteuerte Herr Pattersson. »Was hätten wir denn auch bemerken sollen? Meinst du, wenn wir jemanden gesehen hätten, der einen Sack oder Korb mit einer Leiche auf den Dachoden unseres Ferienhauses trägt, hätten wir nicht sofort die Polizei alarmiert?« Ehrliche Entrüstung war ihm anzumerken.
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