Er drehte sich langsam um, griff in seine Hosentasche und grinste Lars Knyst an, was ihn noch jünger aussehen ließ. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog er die Hand aus der Tasche und warf ihm den Autoschlüssel zu. Voller Eifer hechtete Knyst, der ein begeisterter Autofahrer war, nach dem Bund und fing es geschickt auf.
»Du fährst!«, sagte Lundquist. Sie sahen einander an und lachten.
»Privater Termin heute Abend, hä? Ein Rendezvous etwa?«, grinste Knyst, als sie kurze Zeit später zur Rechtsmedizin unterwegs waren und lauschte so zufrieden dem gleichförmigen, leisen Motorengeräusch, wie es nur einem echten Autofan möglich war.
»Nein«, antwortete Lundquist, »es sei denn, mein Hausarzt interpretiert neuerdings Besuche in seiner Praxis auf diese Weise.«
»Aha. Also doch Brittas Virus! Ich sag’s ja: Die wird uns alle ausrotten damit!«, stellte Knyst fest und knurrte verärgert.
»Nur der normale Check. Außerdem freut sich Gitte doch bestimmt, wenn du heute mal eher nach Hause kommst.«
»Ja, das wär wohl nicht ganz verkehrt«, antwortete Lars nachdenklich und begann mit der Planung eines romantischen Abends mit Rosen und gutem Essen in ihrer Lieblingspizzeria, und danach …
Gitte hatte sich in letzter Zeit oft über seine unkalkulierbaren Arbeitszeiten beschwert, und jetzt war die Gelegenheit ihr zu beweisen, dass Unkalkulierbarkeit auch ihre Sonnenseiten haben konnte. Er durfte nur nicht vergessen einen Tisch in ihrem Ristorante zu bestellen; in letzter Zeit war das Lokal immer gut besucht. Leise pfiff er vor sich hin.
Dr. Mohl, ein untersetzter, älterer Herr erwartete sie schon.
»Guten Morgen! Da habt ihr uns eine echte Knobelaufgabe geschickt. Nicht das Übliche jedenfalls, nein, wirklich nicht.«
Lundquist begrüßte den Rechtsmediziner herzlich. Sie arbeiteten schon zusammen, seit er seinen ersten Fall lösen musste.
Auf Dr. Mohls Urteil war Verlass.
»Was wir mit Sicherheit feststellen konnten ist, dass es sich um eine Frau handelt. Alles andere wird schwierig. Sehr schwierig«, erklärte der forensische Pathologe, während er mit kleinen, trippelnden Schritten vor den beiden jungen Männern herlief. Der Gang schien sich endlos hinzuziehen, rechts und links gingen Stahltüren ab, die in Sektions- oder Kühlräume führten. Lundquist zog fröstelnd die Schultern hoch. Er kam nicht gerne an diesen Ort. Der Tod bekam unter den Händen der Gerichtsmediziner eine neue Dimension. Qualen, von denen man zuvor nichts geahnt hatte, erhielten Konturen und teilten sich den erfahrenen Obduzenten mit, das Opfer erhielt eine Vergangenheit, gab Auskunft über seine Lebensumstände, über frühere oder akut erlittene Misshandlungen und die Todesumstände.
»Wir untersuchen ihren Mageninhalt – oder das, von dem wir glauben, dass es der Mageninhalt ist. Vielleicht finden wir Barbiturate darin.«
Dr. Mohl stieß die Tür zu seiner Linken auf.
Lundquist hielt den Atem an.
Das diffuse Licht auf Hilmarströms Dachboden hatte den Zustand des Körpers nur erahnen lassen. Doch hier, im Licht der OP-Lampe, waren die Auswirkungen der Verwesung nicht zu übersehen. Selbst Knyst, der nicht leicht aus der Ruhe zu bringen war, gab einen seltsamen, gurgelnden Laut von sich.
Sie hatten Dr. Mohl bei der Sektion unterbrochen.
Der Brustkorb war geöffnet und in einigen Edelstahlgefäßen lagen bräunliche Proben.
»Wir haben die Organe entnommen. Manche sind schon zersetzt, andere relativ gut erhalten. Wir glauben, wie ich schon andeutete, sogar den Mageninhalt noch untersuchen zu können – mal abwarten.«
Lundquist versuchte so flach wie möglich zu atmen.
»Es handelt sich, wie gesagt, um eine Frau. Über sechzig, wahrscheinlich sogar über siebzig. Wir haben sie geröntgt. Keine stumpfe Gewalt gegen den Schädel, keine Brüche oder erkennbaren Verletzungen. Nur alte, zum Teil schlecht verheilte Frakturen. Die Halswirbel sind ebenfalls unverletzt, kein gebrochenes Genick. Im Moment kann ich nur Vermutungen anstellen, und das bringt dich nicht weiter. Es gibt Indizien für eine Erstickung, aber um das zu belegen, muss ich mir ihr Gesicht genauer ansehen.«
Ihr Gesicht.
Lundquist zuckte heftig zusammen. Das, was unterhalb des Haaransatzes zu erkennen war, hatte kaum Ähnlichkeit mit einem Gesicht. Die Augen waren trübe, tief in die Höhlen gesunken, ihre Lippen entblößten einen weitgehend zahnlosen Kiefer, an der Nasenspitze waren Haut und Knorpel verschwunden und der Knochen freigelegt. Pergamentartig spannte sich die Haut über die knöchernen Strukturen und ließ das Gesicht wie einen Totenschädel wirken. Es kostete Lundquist Mühe, seinen Blick über den Rest des Körpers gleiten zu lassen. Die Fingerknochen endeten in langen Krallen. Er registrierte, dass einige von ihnen abgebrochen waren.
Dr. Mohl bemerkte das Stutzen des Hauptkommissars.
»Ja, wir haben das natürlich auch bemerkt. Sieht aus, als habe sie sich vehement gewehrt. Bestimmt hat sie den Täter erheblich verletzt. Interessant ist auch eine Stelle am unteren Rücken. Wir untersuchen das näher, es könnte sich dabei um einen ausgeprägten Dekubitus handeln. Das würde darauf hindeuten, dass sie längere Zeit bettlägerig war.«
»Dekubitus?«, Knyst runzelte die Stirn. »Das sind doch offene Wunden, die Menschen bekommen, die schlecht gepflegt werden, oder? War sie eine Patientin in einem Pflegeheim?«
»Das können wir nicht ausschließen. Freiwillig ist sie jedenfalls nicht gestorben, und dann in die Truhe geklettert«, gab der Rechtsmediziner zurück. »Ihr werdet geduldig auf unsere Ergebnisse warten müssen. Die Organe … nun, und die Körpermitte …«
»Ja, ich sehe schon«, fiel Lundquist Dr. Mohl hastig ins Wort. Gerade mit der geöffneten Körpermitte und ihrem schon verflüssigten Inhalt wollte er sich lieber nicht eingehender befassen. Es im Bericht zu lesen, würde ausreichen.
»Wir schicken noch heute einen ersten Bericht. Sagen wir am Nachmittag. Bis dahin kann ich euch sicher schon mehr sagen. Es ist, wie gesagt, etwas komplizierter als sonst.«
Sven Lundquist sah während der Fahrt nach Stenungssund aus dem Fenster und hing seinen eigenen Gedanken nach. Es war sinnlos, über die Umstände des Todes der Unbekannten zu spekulieren. Er wusste, dass ohne weitere Information keine Theorie entstehen konnte, die tatsächlich als Arbeitshypothese Bestand haben würde. Nicht einmal die Todesursache war bisher bekannt. Aber wer sollte nur auf die Idee kommen, eine Leiche auf dem Dachboden eines Ferienhauses zurückzulassen – niemand konnte doch ernsthaft glauben, sie würde dort unentdeckt bleiben?, überlegte er. Die Autopsie war noch nicht abgeschlossen. Lundquist war der Anblick von Toten ohnehin schon unangenehm genug, aber wenn er bei einer Öffnung zusehen musste, kam er sich immer wie ein Frevler, wie ein Leichenschänder vor.
Das würde ihm diesmal erspart bleiben.
Dr. Mohl schickte die beiden Ermittler an ihre Arbeit zurück.
Er meinte, direkt bei der Obduktion ergäben sich in diesem Fall wahrscheinlich keine konkreten Ergebnisse, sie müssten die Analysen abwarten.
Wirklich bedauerlich, dachte Lundquist, dass es noch keine weniger invasive Möglichkeit gab, den Toten Informationen über Todesursache, Todeszeitpunkt und vieles mehr zu entlocken.
Am Fenster zog der dunkle Tannenwald vorüber, der an manchen Stellen so dicht war, dass man zwischen den Stämmen nicht in die Tiefe blicken konnte. Hier wirkte er wie eine dunkle, undurchdringliche Wand. In solchen finsteren Waldarealen sangen keine Vögel, jagten sich keine Eichhörnchen und auch andere Waldtiere fühlten sich dort nicht wohl.
»Unheimlich!«, hatte Lisa gesagt. Sie glaubte fest daran, dass im Dunklen Trolle hausten, die neue ärgerliche Streiche ausheckten. Lundquist lächelte, als er an seine kleine Tochter dachte. Nicht nur Kinder glaubten an die Existenz dieser Waldgeister, die immer zu Abenteuern aufgelegt waren. Unzählige Geschichten beschäftigten sich mit diesen Wesen, mal mit lustigen, mal mit ernsten, unheimlichen Episoden. Zahlreiche Puppenmacher gestalteten Trolle und Kinder wie Erwachsene waren von ihnen so fasziniert, dass einige sie sogar mit ins Bett nahmen. Wahrscheinlich war es das Unberechenbare in ihrem Wesen, das die Menschen so für diese Waldgeister einnahm. Der Überlieferung nach konnte man versuchen sich mit ihnen gut zu stellen, indem man sie in das eigene Leben mit einbezog, sich mit ihnen unterhielt, sie streichelte und liebkoste. Aber auch intensivstes Bemühen war keine Garantie. Trolle waren in dieser Beziehung unbestechlich. Wenn sie entsprechender Laune waren, spielten sie auch dem nettesten Lebenspartner gemeine und hinterhältige Streiche.
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