Am Freitag trat ich meine Mission an. Bis zwölf Uhr hat das Bürgeramt Sprechstunde, ich erschien um acht und reihte mich resignierend in die Schlange der Wartenden vor dem Info-Schalter ein. »Internationaler Führerschein?«, fragte der Mann dort, als ich schließlich endlich drankam, »was wollnse denn damit? Das braucht doch kein Mensch.« Traurig sah ich ihn an. »Doch, ich brauche das«, seufzte ich. »Hamse denn alles dabei?« Er ließ sich tatsächlich alles zeigen: Führerschein, Ausweis, Passbild. Vorher gibt es keine Wartemarke. Damit die wertvolle Zeit der Sachbearbeiter nicht von Leuten geraubt wird, die den hohen Anforderungen nicht gewachsen sind. Die nicht würdig sind, bis zum richtigen Schalter vorgelassen zu werden. Richtig so! Survival of the fittest, hier im Bürgeramt Wedding, da gilt noch das eherne Gesetz der natürlichen Auslese. Ich aber war Profi, ich war vorbildlich vorbereitet. Neidisch schauten die Weddinger hinter mir in der Schlange auf mich. Mindestens die Hälfte von ihnen würde wahrscheinlich hier bereits abgewiesen. Ich aber hatte die erste Hürde bewältigt, ich erhielt das Privileg, eine Wartemarke ziehen zu dürfen. Ganz berauscht von meinem Erfolg setzte ich mich zu den anderen Auserwählten. Wir waren die Elite des Bezirks! Jetzt ging alles überraschend schnell. Schon etwa drei Stunden später kam ich dran.
Ich war gerade auf dem Weg in die Schalterhalle, als ich einen Tumult, lautes Jammern und Wehklagen aus dem Eingangsbereich hörte. Elf Uhr. Da wird die Wartemarken-Ausgabe beendet. Wer jetzt noch in der Schlange steht, hat die letzten Stunden vergeblich dort verbracht, der wird unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt. Schaudernd wandte ich mich ab von den Bildern des Elends.
Das Bürgeramt Wedding ist ein Großraumbüro. Jeder Mitarbeiter sitzt hinter seinem Schreibtisch, mit einigen Stellwänden wird so etwas wie Privatsphäre simuliert. Ich trat an Schalter fünf, den mir zugewiesenen. Eine etwa fünfzigjährige, stämmige Frau saß dahinter und musterte mich misstrauisch. Hinter ihr stand ein Radio, aus dem ganz leise Radio Paradiso zirpte. Genau so leise, dass es nicht mehr bis zum nächsten Mitarbeiter am Schreibtisch daneben drang. Denn der hat sein eigenes, leise vor sich hin zirpendes Radio. Aus dem, sofern ich das jetzt richtig wahrnahm, ebenfalls Radio Paradiso drang.
»Wieso kommense so spät?«, begrüßte die Frau mich vollkommen angemessen. Ich war entzückt. Ich war in ein Original-Berliner-Schutzgebiet geraten, völlig unbeleckt von allen Modernismen wie aufgesetzter Freundlichkeit und irgendwelchen albernen Service-Gedanken. Ich fühlte mich gleich um zwanzig Jahre jünger.
»Und was wollnse überhaupt hier?«, blaffte die Frau weiter, während ich vor Behaglichkeit schnurrte: »Einen Internationalen Führerschein.«
»Wat wollnse?«, fragte die Frau. Großartig. Ob die extra geschult werden dafür? Vom Amt für Denkmalschutz?
»Den Internationalen Führerschein«, wiederholte ich und spürte, wie meine Laune sich stetig besserte. Man musste es einfach andersherum sehen. Im Grunde hatte meine Reise schon begonnen. Klar, Chile, das würde sicher spannend werden. Aber mehr Exotik als dieses aus der Zeit gefallene Büro – die Frau hatte tatsächlich einen waschechten Gummibaum an ihrem Platz stehen, um nicht zu sagen: zu stehen! –, mehr Exotik und Abenteuer würde Südamerika auch nicht bieten können.
»Wat wollnse denn mit dem Ding?«, flötete die Weddinger Indígena mir entgegen, und fröhlich erwiderte ich: »Ich reise morgen nach Südamerika, da braucht man so was.«
»Quatsch«, schimpfte die Dame, »wat solln die denn damit? Das Ding braucht kein Mensch, nicht mal in Südamerika oder in Timbuktu!« Großartig, sie war wild entschlossen, mir das ganze Programm zu bieten. Ich wand mich vor Vorfreude, als ich lächelnd antwortete: »Doch, doch, ich brauche das.«
»Und morgen wollnse los, oder was, und dann wollnse das womöglich jetzt sofort mitnehmen, oder wie?« Sie sah mich streng an.
»Ganz genau!« Ich strahlte. Sie holte tief Luft.
»Und damit kommse mir eine Stunde vor Schluss hier an? Junge, Junge, was glaubense denn, wo wir hier sind!«
»Auf Ihrer Homepage steht, dass es den Internationalen Führerschein gleich zum Mitnehmen gibt!«
»Wasn für ne Homepage?«
»Im Internet!«
»Ach, dit Internet. Glaubense mir, junger Mann, da steht ne Menge drin in diesem Internet! Allerhand sogar! Dis solltense nu wirklich nich alles für bare Münze nehmen.«
»Im Internet, auf der Seite des Bürgeramtes Wedding, auf Ihrer Seite, steht, dass es den Internationalen Führerschein gleich zum Mitnehmen gibt!«, beharrte ich.
»Junger Mann, wollnse mir verarschen? Im Internet steht auch, dass se hier im voraus Termine per Mehl kriegen.«
»Ja, stimmt, das habe ich auch probiert, aber das funktioniert gar nicht.«
Sie sah mich entgeistert an. »Junger Mann, sindse neu hier? Wo kommse denn her ...?«, sie schaute auf meinen Ausweis, »... aus Münster? Ach, wie die Spaßvögel vom Tatort . Na, Sie sind wohl auch so’n ganz Lustiger, wa? Behördentermine per Mehl, Mann, Mann, Mann, wo lebense denn?« Ich wand mich vor Wonne. Richtig so!
»Gib mir mehr davon!«, wollte ich schon rufen, fragte dann aber lieber doch: »Was ist denn nun? Ich brauche das blöde Ding wirklich heute, sonst kriege ich morgen in Chile kein Auto, der Vermieter dort will das nämlich sehen, warum auch immer, das steht da aus irgendwelchen Gründen in den Vorschriften.«
Sie schüttelte nur mit dem Kopf, knurrte irgendwas in Richtung »Sachen gibbet, also echt«, dann sagte sie: »Kost aber 20 Euro.«
Na also. Ich wollte mich gerade aufmachen zu dem legendären, mystischen Kassenautomaten, da fiel mein Blick auf ein großes Schild auf dem Schreibtisch der Frau. Ich verschluckte mich fast vor Schreck: »Wir akzeptieren gerne Ihre EC-Karte«, stand dort. »Gerne«! Fast hätte ich mein Gegenüber gefragt, ob ich tatsächlich bei ihr mit Karte bezahlen kann, aber jetzt allmählich mussten wir das hier mal zum Abschluss bringen, die Zeit für die zweifellos folgende Könnse-nich-lesen? Was-meinse-wohl-wozu-das-Schild-da-steht-Orgie sollte ich uns doch besser ersparen, denn die magische 12-Uhr-Marke nahte. High Noon, bis dahin mussten wir hier fertig sein, wer weiß, was sonst passieren würde. Also legte ich ihr einfach die Karte vor.
Sie starrte mich ungläubig an.
»Wat soll das denn?«
»20 Euro! Sie sagten, es kostet 20 Euro.«
»Ja, und? Was wollnse dann mit die Karte hier? Ick bin doch keene Bank! Gehnse ma lieber langsam los zum Kassenautomaten, bald is hier Feierabend nämlich!«
Ich deutete auf das Schild, das direkt vor ihr stand. Sie drehte es zu sich um, studierte es eingehend mit hochgezogenen Brauen, schüttelte kurz verständnislos mit dem Kopf und murmelte: »Jetzte drehnse alle durch.« Dann wendete sie sich wieder mir zu: »Dit tut’s sowieso nich.«
»Ist die Maschine kaputt?«, fragte ich.
»Was’n für ’ne Maschine? Die einzige Maschine hier ist der Kassenautomat. Da müssense bezahlen. Dafür isser ja da. Oder was glauben Sie, wofür wa dit Monstrum ham?«
Ich seufzte. »Steht das Ding immer noch in diesem Nebengebäude ...?«
»Ganz genau. Und jetzte machense mal hin, viel Zeit hamse nich mehr, und der Weg is weit. Verlaufense sich ja nich, da ist jetzt so ne Baustelle zwischen. Folgense einfach den Schildern.«
Ich rannte los. Der Kassenautomat des Bürgeramtes Wedding steht bestimmt auch unter Denkmalschutz. Aus irgendeinem Grund dürfen die Bürgeramtsmitarbeiter das Geld nicht selbst annehmen. Warum auch immer. Wahrscheinlich eine Regelung aus einer Zeit, als man noch Internationale Führerscheine brauchte. Man muss also zu diesem Kassenautomaten, um dort das Geld einzuzahlen, dann bekommt man einen Bon, mit dem man zum Schalter zurückgeht, um ihn dort abzugeben. Der Kassenautomat steht aber natürlich nicht in der Schalterhalle. Oder davor. Oder im Wartesaal. Der Kassenautomat steht in einem Nebengebäude, das man erreicht, indem man erst durch den Wartesaal und dann durch ein Treppenhaus und dann durch einen langen Verbindungsgang in Form einer überdachten Brücke zum Nebengebäude und dann wieder durch ein Treppenhaus und dann durch einen weiteren Gang und dann durch noch einen Gang und dann durch eine andere Eingangshalle und dann hinten rechts die Treppe runtergeht. Zwischendurch musste ich tatsächlich durch eine Baustelle, da die komplette Decke im Nebengebäude saniert wird, ich musste mich zwischen Abdeckplanen und Gerüsten hindurchquetschen.
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