Heiko Werning
Schlimme Nächte
Von Abstürzen und bösen Überraschungen
FUEGO
- Über dieses Buch -
Geplatzte Dates und geplatzte Kondome, schreiende Nachbarn und krakeelende Kinder, billiges Bier und billige Ausreden, Urängste und Selbstzweifel...
Es wäre kaum zu ertragen, wenn man nicht wüsste, dass am nächsten Morgen, bei Lichte betrachtet, alles noch viel schlimmer sein wird. Heiko Werning leuchtet in seinen Geschichten die finstersten Ecken der menschlichen Existenz aus: Feten, auf denen Westernhagen gespielt wird, Massagesalons, in denen man »no sex« bestellen muss, Übernachtungen in zerstrittenen WGs oder Saufgelage mit Striptease-Einlagen. Und trifft dabei auf allerlei Nachtgestalten: Künstlerinnen, die sich Sperma in die Haare stricken, Transvestiten, die sich mit vorgehaltenem Messer auf eine Pizza einladen lassen, Lesben, die junge Männer abschleppen, und Freunde, die man gut zu kennen glaubte und die sich dann als Klaus-Hoffmann-Fans entpuppen.
Die Nacht des untoten Kaninchens
Wir waren in der vierten Grundschulklasse. Eine dreitägige Klassenfahrt sollte uns in die Lüneburger Heide führen. Für viele von uns war es das erste Mal, dass sie ohne Eltern verreisten. Es war sehr aufregend.
Es wurde noch aufregender, als wir uns am letzten Abend entschlossen, auf eigene Faust eine Nachtwanderung zu unternehmen. Um neun Uhr mussten alle in den Schlafsälen der Jugendherberge in ihren Betten liegen, um halb zehn unternahm Frau Gerling ihren letzten Inspektionsgang, um zehn schliefen sie alle, die Luschen, diese Langweiler. Da waren wir aber aus anderem Holz geschnitzt! Wir suchten das Abenteuer!
Zu fünft machten wir uns auf. Auf Socken schlichen wir zum Hintereingang der Jugendherberge, erst draußen wagten wir, unsere Schuhe anzuziehen. Und erst, als wir auf einem der zahllosen Wanderwege so weit von den Straßenlaternen entfernt waren, dass ihr Licht kaum noch hinter die Wacholderbüsche reichte, schalteten wir unsere Taschenlampen an. Nun konnte es losgehen.
Gregor erzählte wilde Geschichten von Geistern und Heidemonstern, wir lachten überdreht, um unsere Furcht zu überspielen. Es war nämlich doch ganz schön unheimlich, das Spiel der Schatten im Schein der hin und her irrenden fünf Taschenlampen auf den Heidesträuchern, und mancher Wacholder wirkte vor dem Sternenhimmel zunächst wie eine der Figuren aus dem Gruselrepertoire von Gregor. Der sich zudem immer mal wieder den Spaß erlaubte, uns zu erschrecken, in dem er seltsame Laute von sich gab oder seine Taschenlampe ausschaltete, sich hinter einem Busch versteckte und dann kurz vor einem von uns mit heiserem Gurgeln dahinter hervorsprang.
Plötzlich rief er: »Psst! Seid mal leise, da ist was!«
»Na klar«, gab ich mich betont abgeklärt, »wieder einer von deinen Heidemördern!« (Ein damals noch ganz und gar unpolitischer Begriff.)
»Nein, echt jetzt! Hört doch mal, da, hinter dem Busch, bewegt sich da nicht was?«
Auch wenn klar war, dass es sich wieder um einen seiner blöden Scherze handeln musste, wurde mir die Sache doch etwas unheimlich. Wie überhaupt der ganze Ausflug. Vielleicht wäre ich doch besser im Schlafsaal bei den anderen geblieben. Was wussten wir schon, was nachts in der Heide alles unterwegs sein konnte?
Plötzlich sah ich im fahlen Mondlicht, wie etwas aus einem Busch heraus direkt in meine Richtung sprang. Ich schrie auf. Die anderen richteten ihre Taschenlampen auf mich, ich kniff die Augen zu. »Da, da vor mir, an dem Busch!«, schrie ich.
Als ich die Augen wieder aufmachen konnte, sah ich auf dem Boden vor mir, in der Mitte von fünf zitternden Lichtkegeln – nun ja: ein Kaninchen. Ich seufzte, bereit, das höhnische Gegacker von Gregor und den anderen über mich ergehen zu lassen.
»Oh, ein Karnickel, wie gefährlich!« – »Pass auf, dass es dich nicht packt!« – »Hilfe, hilfe, ein Häschen!« – und so weiter. War ja klar.
Während ich versuchte, meine Gefährten zu ignorieren, betrachtete ich das Tier. Es hüpfte nicht weg, es saß einfach da. Seltsam, eigentlich. So kannte ich Wildkaninchen nun überhaupt nicht. Und wenn man genauer hinsah, war es auch im gelbstichigen Schein der Lampen nicht zu übersehen: Seine Augen glupschten aus den Höhlen, waren blutunterlaufen, das Fell um sie herum war verschmiert und verklebt mit Tränen und Sekreten. Das Tier zitterte am ganzen Körper.
Myxomatose, keine Frage. Oft schon hatte ich von der Kaninchenseuche gehört, zum ersten Mal nun sah ich ein leibhaftiges Opfer. Es war kein schöner Anblick. Das Johlen der anderen war längst verklungen, inzwischen war ihnen wohl auch aufgefallen, dass mit dem Tier etwas nicht stimmte, auch sie schauten nun genauer hin. »Igitt«, fasste Jens den Gesamtzustand durchaus treffend zusammen, und Fridtjof ergänzte: »Kommt, lasst uns schnell weitergehen.« Aber wir zögerten. »Wir können es hier doch nicht einfach so sitzen lassen!«, fand Gregor, »wir müssen etwas tun. Wir müssen ihm helfen! Wie echte Pfadfinder!« Aber mitnehmen, das war uns klar, konnten wir es auch nicht. Man durfte es nicht anfassen, das hatten wir gelernt. Wildtiere, die nicht weglaufen, niemals anfassen. Uns gruselte davor, unsere Augen könnten sonst bald genauso aussehen wie die des Kaninchens, und womöglich hatte es auch noch Tollwut obendrein.
»Lasst uns Hilfe holen«, schlug Jens vor, aber wir sahen uns nur ratlos an. Wen denn? Die Polizei? Die Feuerwehr? Unseren Lehrer gar? Nein, das ging alles auf gar keinen Fall. Mitleid hin oder her – unser nächtlicher Ausflug durfte nicht auffliegen, das würde ordentlich Ärger geben. Wir würden, das wurde uns zunehmend klar, das Problem irgendwie selbst lösen müssen.
Gregor war es, der es als Erster aussprach: »Wir müssen es töten.« Beifälliges Nicken, zustimmendes Murmeln. Ja, wir mussten es töten. Wir sahen Gregor an. Er war der Coole, der Chef unserer Bande, er hatte den ganzen Weg über schon blutige Schauermärchen erzählt, da waren ganz andere Wesen zu Tode gekommen als ein todkrankes Kaninchen, er verjagte die Mädchen. Es war also sozusagen seine natürliche Bestimmung, nun das Kaninchen zu erlösen. Dieser Aspekt war ihm offenbar auch gerade aufgefallen, denn jetzt blickte er sich verwirrt um. »Äh, na ja«, meinte er schließlich, »dann lasst es uns mal tot machen.« Niemand reagierte, alle blickten ihn erwartungsvoll an. »Ähem!«, räusperte er sich, sah auf das bibbernde Fellknäuel, ging einen Schritt näher heran und inspizierte es noch einmal eingehender.
Dann kam ihm die erlösende Idee. »Jens, mach du mal«, entschied er souverän, ganz der Boss, der eine Aufgabe auch mal delegieren kann. Jens war entsetzt: »Ich? Wieso das denn?«
»Ey, ich kann doch nicht immer alles machen! Erst heute morgen noch habe ich die Spacken aus der 4b von unserem Tisch im Frühstückssaal vertrieben, jetzt bist du halt mal dran!« »Aber ...«, Jens’ Blick wurde panisch.
»Trauste dich nicht, oder was?«, setzte Gregor noch einen drauf. Kurz irrlichterte Jens’ Lichtkegel zwischen dem Karnickel und Gregors zu einer hämisch grinsenden Fratze verzogenem Gesicht hin und her – natürlich, er wollte kein Feigling sein. Aber um welchen Preis? Vielleicht würde er sich morgen zu den Spacken aus der 4b setzen müssen, aber nach einem weiteren Blick auf das Kaninchen schien ihm das wohl die preiswertere Lösung. »Was jetzt? Biste zu feige? Trauste dich nicht?«, wiederholte Gregor, und mit der festen Stimme dessen, der sich entschlossen hatte, sein Schicksal anzunehmen, sagte Jens einfach nur: »Ja.« Gregor lachte spöttisch auf, »Feigling!«, zischte er, er wähnte sich noch auf der sicheren Seite, »dann mal los, wer von euch will?«, trieb er die Mutprobe weiter voran.
Aber er hatte zu hoch gepokert, einer nach dem anderen gaben wir es zu: Ja, wir waren zu feige.
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