Heiko Werning
Im wilden Wedding
Zwischen Ghetto und Gentrifizierung
FUEGO
Über dieses Buch
Willkommen im wilden Wedding, jenem Berliner Bezirk, der wahlweise als eines der härtesten Krisengebiete des Landes oder als kommender In-Bezirk gepriesen wird. Erstaunlicherweise beides seit Jahrzehnten in friedlicher Koexistenz. Hier müssen sich die Bewohner noch nicht mit Touristen herumärgern, die sich in ihre Hauseingänge übergeben, hier steigt man auf dem Nachhauseweg noch über echte einheimische Kotze vom ureigenen Prekariat. Hier treffen sich nachts am Imbiss der McFit-gestählte Jungmacho, den seine Eroberung des Abends vor die Tür gesetzt hat, weil er zu betrunken war, um noch einen hoch zu kriegen, mit dem Prediger vom Moscheeverein gegenüber, der seinen Heißhunger auf Schweinefleisch zu stillen sucht.
»Einmal Boulette mit Pommes bitte«, gab ich meine Bestellung auf. Es war eine Zeit, als der Imbiss zur Mittelpromenade noch Imbiss zur Mittelpromenade hieß und nicht wie heute You kill it, we grill it . Und es war eine Zeit, in der es nie zu etwas Gutem führt, wenn man noch am Imbiss zur Mittelpromenade steht und etwas bestellt, nämlich tief in der Nacht.
Ich kam von einem Kneipenabend zurück und war schon angenehm betrunken, und vielleicht hätte ich es besser bei diesem Ergebnis des Abends belassen und schnell ins Bett gehen sollen. Vielleicht wäre ich besser sogar sehr schnell ins Bett gegangen, dachte ich im nächsten Moment, als nämlich der Meister der Mittelpromenade etwas zu mir sagte, das sich für mich etwa so anhörte: »Aber die Bouletten sind heute mit Fleisch.«
Ich lauschte den Worten kurz nach, dann schüttelte ich heftig meinen Kopf, damit sich dort alles wieder zurechtruckeln möge, und fragte anschließend hochkonzentriert: »Was?«
»Die Bouletten sind mit Fleisch. Willste trotzdem?«
Ich starrte ihn misstrauisch an. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Er war der Mann von der Nachtschicht der Mittelpromenade, eine geachtete Respektsperson hier im Kiez. Er kannte sie alle, er sah sie alle – er sah uns alle. Jede Nacht steht er in seiner hell erleuchteten Bude im Dunkel der Weddinger Nacht, umwabert von den Schwaden, die aus seinen beiden Fritteusen aufsteigen, und blickt in stoischer Ruhe über die Kreuzung Seestraße/ Müllerstraße. Ohne erkennbare Regung nimmt er jede Bestellung von jedem entgegen, er kennt unsere dunkelsten Geheimnisse, er hat jeden hier aus der Gegend in seinen desolatesten Momenten erlebt: Wenn er volltrunken nachts an seine Pommesbude torkelt und nach Fett oder Alkohol verlangt. Die Krankenschwester vom Virchow auf dem Weg zur Frühschicht, die sich schnell noch einen Flachmann kauft ebenso wie den McFit -gestählten Jungmacho, den seine Eroberung der Nacht vor die Tür gesetzt hat, weil er zu besoffen war, um noch einen hochzukriegen, oder den Prediger vom Moscheeverein gegenüber, der mit drei Currywürsten seinen nächtlichen Heißhunger auf Schweinefleisch stillt – und er, der Herrscher der Weddinger Nacht, steht in seiner Bude und gibt mit dem immer gleichen Gesichtsausdruck zwischen beichtväterlicher Diskretion und vollständiger Interessenlosigkeit aus, wonach die verzweifelten Seelen vor seinem Fenster verlangen. Kurz: Er ist niemand, in dessen Augen man sich disqualifizieren möchte, indem man zu erkennen gibt, dass man die Codes nicht kennt, dass man nicht dazugehört, dass man nicht weiß, wie der Hase durch die Rehberge läuft. Also, bloß nichts anmerken lassen. Die Boulette ist also mit Fleisch heute. Ich war mir noch nicht ganz im Klaren darüber, wie ich diese Information einordnen sollte. Jetzt war allerdings rasch eine Antwort fällig, es galt, die Abläufe nicht zu stören. Schließlich hielt er die Metallzange schon in der Hand und ließ sie wie einen Geier auf der Suche nach Aas über die Auslage kreisen, also antwortete ich lässig-routiniert: »Na klar.«
Ich sah zu wie er den Klops, von dem ich nun also immerhin wusste, dass er mit Fleisch war, packte und ins blubbernde Fett gleiten ließ, auf dass er sich dort kräftig vollsaugen möge, dann stand er wieder regungslos da und wartete. Ich tat es ihm gleich.
Nur eine Frau war noch zugegen, ich bemerkte sie erst jetzt. Sie stand etwas im Dunkeln an einem der Stehtischchen. Sie sah eigentlich zu gut und zu jung aus für Uhrzeit und Ort. Und sie war etwas zu modisch gekleidet. Sie hatte so eine Retro-Schiebermütze auf, das wirkte fast ein wenig hip. Auf jeden Fall war sie kein bisschen betrunken. Sie passte einfach nicht an diesen Ort.
Sie bemerkte, dass ich sie bemerkt hatte, und lächelte mir freundlich zu. Das ist kein sozial adäquates Verhalten nachts um kurz vor drei mitten auf der Seestraße. Sie passte wirklich nicht an diesen Ort. – Sie passte doch an diesen Ort. Denn jetzt sagte sie: »Sie wollen meine Gedanken abhören! Fast hätten sie mich erwischt, aber hier ist man sicher.«
Ich nickte verstehend. Ja, hier war man sicher. Irgendwie. Hoffentlich ist die Boulette gleich fertig, dachte ich, ich sollte wirklich langsam nach Hause.
»Hier sind die Störstrahlen zu stark«, erläuterte sie, »hier können sie nichts hören.«
Der Imbisswirt stand ungerührt an seinem Fenster und sah teilnahmslos in die Nacht. Ich nickte der jungen Frau noch einmal verstehend zu, lächelte gequält, und weil ich mich genötigt fühlte, auch etwas zu sagen, sagte ich: »Ja, hier hört nur er uns, und das macht nichts – er hat sowieso schon alles gehört.« Der Imbisswirt reagierte nicht auf diesen jämmerlichen Versuch, ihn einzubeziehen. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Müllerstraße. Sie sah erst mich, dann ihn misstrauisch an. Sie dachte nach, dann flüsterte sie: »Du meinst, er gehört dazu?« Der Imbisswirt wandte sich ab, er wirkte kein bisschen beunruhigt, aber zeigte auch weiter keinerlei Interesse, sich an unserer Konversation zu beteiligen. Er zog den Gitterkorb der Fritteuse nach oben und fischte die Boulette heraus. Ich fühlte mich zunehmend unwohl. Ich wollte nicht länger reden mit dieser Frau, also schien es mir als das kleinere Übel, eine andere Front aufzumachen. Scheiß auf die Etikette, dachte ich, dann fragst du eben: »Äh«, fragte ich also, »wieso ist denn die Boulette heute mit Fleisch?«, und genauer betrachtet war das eine dumme Frage, denn was ich ja vor allem wissen wollte, war, was da sonst immer drin ist, wenn Fleisch also der Ausnahmezustand für die hiesigen Bouletten ist. Aber es schien mir irgendwie weniger peinlich, nach dem offenbar unverhofften Fleischvorkommen zu fragen als umgekehrt.
»War ’ne falsche Lieferung heute«, sagte der Imbisswirt und hielt das offenbar für eine ausreichende Erklärung. Aus seiner Sicht war sie das vermutlich auch. Ich hätte es ja auch dabei bewenden lassen, wenn nicht die junge Frau mich so eingehend gemustert und sehr den Eindruck gemacht hätte, als wollte sie jetzt gleich wieder etwas sagen. Das aber wollte ich nicht hören, also setzte ich nach: »Ehrlich gesagt – ich dachte eigentlich, die Bouletten wären immer mit Fleisch.« Der Imbisswirt sah mich überrascht an und lachte auf. »Echt? Na, du bist ja lustig. Was meinst denn du, warum die Dinger hier nur ’n Euro fuffzich kosten?« Ich kam mir vor wie der Tourist in einer Geschichte des großen Döner-Literaten Frank Sorge, der nicht weiß, was er auf die Frage »Knoblauchkräuterscharf?« antworten soll. Ist das peinlich! Hier würde ich mich so schnell nicht wieder blicken lassen können. Zu allem Unglück schaltete sich nun auch noch die junge Frau ein: »Man kann sich aber schützen«, sagte sie. Dann zeigte sie auf ihre Mütze. Verschwörerisch raunte sie mir zu: »Alu-Folie! Wenn du deinen Kopf mit Alu-Folie abschirmst, reflektiert das die Strahlen! Dann können sie nichts mehr hören!«
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