Ich bin auch nicht sicher, ob der Bewegung hier sehr viel Sympathie entgegenschlagen wird. Gut, sie rechnen wahrscheinlich gar nicht groß damit, dass Weddinger bei der Party mitmachen. Dafür spricht auch der Treffpunkt: S-Bahnhof Wedding. Praktisch die Direktverbindung nach Friedrichshain/Kreuzberg.
Ein weiterer Flyer empfiehlt den Teilnehmern, vermummt zu erscheinen. »Und dann …«, gibt sich der Zettel geheimnisvoll, aber das Rätsel ist nicht sehr schwierig, das beigefügte Foto von Steine werfenden Vermummten lässt die Intention auch den ungeübten Betrachter leicht erraten.
»Walpurgisnacht«, knurrt Ahmed im Vorbeigehen noch einmal in unsere Richtung, »ist das nicht das vorm 1. Mai, wo die immer alles kaputtmachen?«
»Genau, so will es der Brauch«, erläutern wir und zeigen ihm den gelben Flyer.
Ahmed schaut verständnislos: »Aber hier ist doch schon alles kaputt. Warum gehen die nicht nach Prenzlauer Berg?«
Wir wissen es nicht. »Vielleicht ist die Party insgesamt nicht mehr so angesagt wie früher und sie hoffen auf Verstärkung durch Weddinger Jugendgangs?«, spekuliere ich.
»Aber woher wollen die denn wissen, dass die da mitmachen?«, erwidert Ahmed, »das sind doch alles Türken und Araber! Die lassen sich doch nicht von aus Westdeutschland zugezogenen Friedrichshainern vorschreiben, wann sie hier zu randalieren haben! Außerdem spielt an dem Abend Galatasaray gegen Beşiktaş in der Süper Lig, da sitzen sowieso alle vorm Fernseher.«
Ich denke, wir bleiben gelassen. Der Weddinger Bevölkerung wird der merkwürdige Aufzug in der Nacht zum 1. Mai so egal sein wie alles andere auch. Auf ein paar Verrückte mehr kommt es hier letztlich nun wirklich nicht an, viel Schaden können sie ohnehin nicht anrichten. Und Bernhard wird vom Cralle schon irgendwie nach Hause kommen. Ansonsten bleibt er halt da, wäre ja auch nicht das erste Mal.
Das Einzige, was mich dann doch durchaus ernsthaft besorgt: Geboren wurde die antikapitalistische Walpurgisnacht im Prenzlauer Berg, danach marodierte sie durch Friedrichshain. Ergebnis: Beide Bezirke sind inzwischen total gentrifiziert.
Sind es gar nicht, wie immer behauptet wird, die Künstler, die Hipster, die Studenten, die die Speerspitze der Gentrifizierung bilden? Sind es am Ende die revolutionären Antikapitalisten, die den Boden bereiten, die eine Gegend erst aufregend und interessant machen, sodass sich anschließend mit dem üblichen Zeitverzug der Rattenschwanz an Nachfolgern dorthin begibt? Ist nicht so eine antikapitalistische Walpurgisnacht bereits vollendete Gentrifizierung im Miniaturformat: Eine Bande neunmalkluger Zugereister fällt über einen Kiez her, weiß alles besser, macht den dicken Maxe und sorgt dafür, dass sich garantiert kein einziger Einheimischer in der Nähe blicken lässt? Aber dass dafür die ganze Gegend groß in die Medien kommt? Und andere erst richtig auf sie aufmerksam werden?
Ich hoffe nur, der Wedding ist stärker. Mein Blick fällt durch die Scheibe des Saray auf die große Leuchtreklame mit dem neuen Namen vom ehemaligen Imbiss zur Mittelpromenade direkt gegenüber. Mehrfach schon habe ich darüber nachgegrübelt, was das wohl bedeuten mag. Ob sich da schon einer auf die neuen autonomen Besucher eingestellt hat? Auf knallig gelbem Grund leuchtet der Schriftzug über die Müllerstraße: You kill it, we grill it . Dann mal einen schönen Tanz in den Mai, liebe revolutionäre Antikapitalisten.
Internationaler Führerschein
»Also, es ist alles ganz einfach«, versicherte der Mann vom Reisebüro, »wenn Sie in Chile angekommen sind, gehen Sie im Flughafen von Santiago einfach zum Schalter der Mietwagenfirma, legen da diesen Gutschein, Ihren Pass, den Führerschein und den Internationalen Führerschein vor, und dann können Sie direkt den Wagen in Empfang nehmen.«
Das klingt gut, dachte ich. Also, Gutschein nicht vergessen, Pass und Führerschein habe ich ja eh in der Tasche, und den – was? Erstaunt sah ich ihn an: »Den Internationalen Führerschein? Gibt’s das Ding überhaupt noch?«
»Ja, steht hier. Den brauchen Sie zur Übergabe.«
»Wieso das denn? Was will denn die Mietwagenfirma damit?«
»Keine Ahnung. Steht hier halt.«
Der Internationale Führerschein. Das nutzloseste Papier der Welt, gleich nach dem Stimmzettel für die Bundespräsidentenwahl und Büchern von Thilo Sarrazin. Kein Mensch braucht einen Internationalen Führerschein. Ich reise seit rund zwanzig Jahren durch alle Welt, immer hatte ich den Internationalen Führerschein dabei, und noch nie, nicht ein einziges Mal, hat das Ding jemand sehen wollen. Bei meinen allerersten Reisen, als ich noch unerfahren war, hatte ich es ein paarmal vorgezeigt und damit jedes Mal Achselzucken oder Kopfschütteln provoziert, einmal auch helle Aufregung, weil der Polizist im ecuadorianischen Amazonastiefland bereits die Führerscheine von Hunderten deutscher Touristen begutachtet hatte und also wusste, wie so ein Dokument in Wirklichkeit auszusehen hat. Aber was ich ihm da vorhielt, so was hatte er noch nie gesehen, da musste ich erst mal mit zur Wache kommen. Erst ein Machtwort des dortigen Stationsvorstehers und eine eingehende Überprüfung des nationalen Führerscheins ermöglichten schließlich, dass wir weiterfahren durften, trotz des dubiosen, offensichtlich ja in betrügerischer Absicht vorgezeigten Papiers. Seither habe ich den Wisch immer schön stecken lassen, hatte ihn allerdings zur Vorsicht noch lange Zeit dabei, weil er offiziell in manchen Ländern eben Pflicht ist. Vermutlich irgendein historischer Anachronismus. Falls er überhaupt je für irgendwas gut war. Zum Autofahren jedenfalls nicht, denn mit dem Teil allein darf man sich ohnehin nicht auf die Straße wagen, es gilt per definitionem nur in Verbindung mit dem nationalen Führerschein.
Der Mann vom Reisebüro beharrte aber darauf, dass er nicht garantieren könne, ob mir der Wagen in Santiago ohne einen Internationalen Führerschein ausgehändigt würde, und dann hätte ich keinen Anspruch auf Erstattung der Mietkosten. Ich seufzte.
Ich hatte keine Ahnung, wo mein Internationaler Führerschein sein könnte. Ich dachte nach. Ach verdammt, letztlich war es ganz egal, wo der rumlag, das Ding war sowieso längst abgelaufen. Und am übernächsten Tag wollten wir starten. 36 wertvolle Stunden, und eine unkalkulierbare Anzahl davon sollte ich nun für einen Behördengang opfern. Eine schnelle Internetabfrage zu Hause bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Zuständig ist das Bürgeramt Wedding.
Das Bürgeramt Wedding! Mit Grausen erinnerte ich mich an meinen letzten Besuch dort. An stundenlanges Warten in einem Saal, der eher an ein Flüchtlingscamp erinnert. An ein wahnwitziges Anmeldesystem, bei dem man erst ewig an einer Schlange anstehen muss, um an einen Schalter zu kommen, an dem man sein Anliegen vorbringen kann und dann überhaupt erst einmal die Erlaubnis bekommt, eine Wartemarke ziehen zu dürfen. An einen absurden Kassenautomaten, den sie irgendwo im Keller in einem ganz anderen Gebäude versteckt haben und den man nur über ein verwirrendes Labyrinth von Gängen erreicht. An eine Bürgeramtsmitarbeiterin, die mich in einer Tour ausgeschimpft hat, weil ich gottweißwas falsch ausgefüllt hatte. 36 Stunden nur noch – das würde knapp.
Derart von qualvollen Erinnerungen gepeinigt, traute ich dann meinen Augen kaum, als ich auf der Homepage des Bürgeramtes von der Möglichkeit las, sich via Internet einen Termin geben zu lassen. Konnte das sein? Wäre es möglich, dass die in den letzten Jahren irgendwas in Richtung Kundenfreundlichkeit ... Mit vor Aufregung zitternden Fingern klickte ich den Link an, gab meine Angaben in das Formular ein, drückte ab und wartete. Und wartete. Und wartete weiter. Ein Mailerdemon verkündete mir schließlich, dass das Postfach des Bürgeramtes leider übergelaufen sei, ich solle mich mit dem Administrator der Seite in Verbindung setzen. Haha! Der Administrator der Homepage vom Bürgeramt Wedding. Guter Vorschlag. Ich kicherte irre.
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