Klaus Kaindl / Sonja Pöllabauer / Dalibor Mikić
Dolmetschen als Dienst am Menschen
Texte für Mira Kadrić
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8433-5 (Print)
ISBN 978-3-8233-0320-6 (ePub)
Vom Mut über Grenzen zu gehen
Zu Leben und Werk von Mira Kadrić
Klaus Kaindl & Sonja Pöllabauer
Translation wird vielfach mit dem Konzept der „Grenze“ in Verbindung gesetzt, eine Assoziation, die bereits im lateinischen Ursprung des Wortes – tranfserre – angelegt ist. Übersetzen und Dolmetschen als Grenzerfahrung bedeutet immer auch über Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen zu reflektieren. Wesentlich dabei ist, wie mit Grenzen umgegangen wird: Grenzen können einengen, aber auch Sicherheit geben. Grenzen stellen Barrieren dar und geben gleichzeitig den Blick auf Neuland frei, das zu betreten Mut erfordert. Grenzen verleihen einem Gebiet Kontur und definieren, was zentral und was nebensächlich ist.
Betrachtet man Leben und Werk von Mira Kadrić, so sind Grenzen – Sprachgrenzen, Kulturgrenzen, Fachgrenzen und auch persönliche Grenzen – keine Barrieren, sondern produktive Räume, in denen Sprachen, Kulturen, Disziplinen und vor allem Menschen in Kontakt treten. In diesem Sinne sind für sie Grenzen keine Trennlinien, sondern Möglichkeitsräume für Austausch, Diversität und – um ein zentrales Konzept in Kadrić’ Denken aufzugreifen – Dialog.
Geboren in einem Jugoslawien, das sich nicht über ethnische, religiöse oder sprachliche Grenzen zwischen den Landesteilen und Bevölkerungsgruppen definierte, war Sarajevo, wo Mira Kadrić das Gymnasium besuchte, mit seiner Offenheit und Multikulturalität zweifelsohne prägend für sie. Es gehörte sicherlich eine Portion Mut, Initiative und Neugier dazu, dass sich eine junge Frau Anfang zwanzig – und lange bevor es für viele ihrer Landsleute eine zwingende Notwendigkeit wurde – Anfang der 1980er-Jahre entschloss, Bosnien-Herzegowina, ihre Heimat, zu verlassen und nach Wien zu ziehen – mit nicht viel mehr in der Tasche als einem Abschluss eines Tourismuskollegs in Belgrad. In dieser Branche arbeitete sie auch, um ihr Studium am damaligen „Institut für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung“ der Universität Wien zu finanzieren, das sie 1986 begann und mit einer Diplomarbeit (1991) über die serbokroatische Übersetzung von Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse abschloss.
Ihre akademische Laufbahn begann sie zunächst als Studienassistentin, dann Vertrags- und schließlich Universitätsassistentin bei Mary Snell-Hornby, die seit 1990 den ersten Lehrstuhl für Übersetzungswissenschaft an der Universität Wien innehatte. Bereits in dieser Zeit, die sowohl von fachlicher Aufbruchsstimmung und zukunftsweisenden Weichenstellungen als auch heftigem Widerstand und turbulenten Auseinandersetzungen geprägt war, stachen jene Eigenschaften von Mira Kadrić hervor, die sie auch später benötigen sollte, als sie 2006 – wieder in einer institutionellen Umbruchszeit – die Studienprogrammleitung des nunmehr umgetauften Zentrums für Translationswissenschaft übernahm: Klarheit in der Entscheidungsfindung, Entschlossenheit in der Umsetzung und Mut, auch bei Gegenwind zu ihren Entscheidungen zu stehen. Eine zentrale Leitlinie dabei war und ist ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.
Es ist daher wohl kein Zufall, dass 1996 die Wahl des Dissertationsthemas schließlich auf den Bereich des Gerichtsdolmetschens fiel. Zuvor, nämlich 1993, absolvierte sie die Gerichtsdolmetscherprüfung, und die vielfältigen Erfahrungen im Rahmen dieser Tätigkeit bildeten eine wichtige Basis für ihre wissenschaftliche Arbeit in diesem Bereich. Ihr Doktoratsstudium fand im interdisziplinären Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Translationswissenschaft statt, der rechtliche Teil wurde am Juridicum betreut, der translationswissenschaftliche Teil von Mary Snell-Hornby. Das Streben, Interdisziplinarität zu nutzen, um fachliche Grenzen zu überwinden und so den wissenschaftlichen Blick zu weiten, sollte ein zentrales Merkmal von Mira Kadrić’ wissenschaftlicher Arbeitsweise bleiben. Dass die im Jahr 2000 eingereichte Dissertationsschrift, die ein Jahr später in Buchform unter dem Titel Dolmetschen bei Gericht: Erwartungen – Anforderungen – Kompetenzen erschien, zu einem Standardwerk mit mehreren Auflagen (zuletzt 2009) sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis wurde, offenbart ein weiteres Charakteristikum von Mira Kadrić’ Denken: Wissenschaft und Praxis sollten keine abgegrenzten Bereiche sein, sondern sich in konstantem Austausch befinden.
Dieses Prinzip verfolgte sie auch im Rahmen ihres Habilitationsprojekts, in dem die translationswissenschaftliche Didaktikforschung mit der Praxis des Unterrichts vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Auftrags universitärer (Aus)Bildungsstätten verbunden wurde. Dass Dolmetschen und somit auch die Dolmetschausbildung immer in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen, wurde bereits in ihrer Dissertation deutlich gemacht. Nun wird die Idee Studierende für den Beruf so auszubilden, „dass man sie mündig macht, anstatt besänftigende zu Gehorsam erziehende Attituden des Translationsaktes oder Translationsberufes zu fördern“ (2009:164), durch die Integrierung theaterpädagogischer Konzepte des brasilianischen Regisseurs und Theatertheoretikers Augusto Boal in ein innovatives Didaktikkonzept umgesetzt. Auch in diesem Fall bleibt es nicht bei einem einfachen Blick über den disziplinären Grenzzaun, Mira Kadrić absolviert 2005–2006 einen Lehrgang für Theaterpädagogik nach Augusto Boal, den sie auch persönlich kennen- und schätzen lernt, um sich das theoretische und praktische Rüstzeug zu erwerben, das dann für die wissenschaftliche Arbeit in konkreten Unterrichtssituationen erprobt wurde.
Mitten in der Arbeit an ihrer Habilitation übernahm Mira Kadrić 2006 die Funktion der Studienprogrammleitung. Eine neue Studienstruktur, aber auch eine neue Institutskultur im Bereich der Lehre zu etablieren, waren eine nicht nur anspruchsvolle, sondern auch kräftezehrende Aufgabe, der sich Mira Kadrić bis 2011 mit unnachahmlicher Energie widmete. Trotz dieser zeitraubenden Funktion brachte sie – quasi „nebenbei“, tatsächlich aber unter hohem persönlichen Einsatz – ihre Habilitation zum Abschluss. Nach einer kurzen Zeit als Außerordentliche Universitätsprofessorin bewarb sie sich 2010 erfolgreich für eine volle Professur und ist seit 2011 die erste Professorin mit einem dolmetschwissenschaftlichen Lehrstuhl am Zentrum für Translationswissenschaft.
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