So gab ich meinen Schwestern die große Henne von Peters Mutter und rutschte hinter den Kutschbock.
“Papa, wohin fahren wir jetzt?”
“In ein geheiligtes Dorf, David, mit einer langen Geschichte, der Geschichte der spanischen ‘sephardischen’ Juden: Es wollte die Königin Isabella von Spanien vor etwa fünfhundert Jahren unsere Religion vernichten, damit die katholische Religion allein in der ganzen Welt die einzig gültige sein sollte. Die Juden Spaniens waren zu jener Zeit zu einem geistigen und weltlichen Wohlstand gelangt. Aber jetzt stellte man sie vor die Wahl, getötet zu werden oder sich katholisch taufen zu lassen. Manche ließen sich taufen, aber nicht in ihren Seelen. Andere starben in den Flammen ‘Adonai echad’ singend. Man verbrannte sie sogar zur Belustigung bei Festlichkeiten als lebendige Fackeln! Höllische Schrecken, ja, zu dergleichen waren die Christen fähig. Einigen von uns gelang es zu flüchten. Seitdem wandern die spanischen Juden durch die Welt, eine neue Heimat suchend.
David, wir sind von allen Völkern der Erde nur geduldet, seit man uns aus Israel vetrieb, und von Zeit zu Zeit werden wir aufs Neue wieder vertrieben. Wenn es in einem Lande schlecht geht, sagt man, die Juden sind Schuld daran! Aber in Ungarn hat die alte Krönungsstadt Poszony, nicht weit von Wien entfernt, zusammen mit sieben umliegenden Dörfern den spanischen Juden Asyl gewährt. Oroszwár ist eines dieser sieben für uns geheiligten Dörfer. Du wirst dort auch noch alte spanische Gebräuche kennenlernen.”
Mir war, als führe unser Wagen schon in das geheiligte Land. Dies Gefühl blieb auch beim Umsteigen in den Zug und den elf Kilometern (neben einem kleinen Wagen her) zu Fuß nach Oroszwár. Die Bewohner betrachteten unseren Einzug mit Verständnis, sie waren an Juden gewöhnt. Einige grüßten Vater:
“Schalom Rabbi.” Vater sagte dann: “Hier bin ich der Kantor, wir haben so den Austausch mit Bakony-Tamasi abgemacht.”
Der sehr alte Tempeldiener zeigte Mutter unser neues Heimchen und Vater und mir mit Andacht und Freude die alte Synagoge, deren Tor er mit einem großen Schlüssel öffnete.
“Papa, schau! Was ist hier geschehen, die Synagoge ist in die Erde versunken!”
“Ja, ja”, nickte der Tempeldiener, “das kommt vom Gewicht der Zeit. Der Großvater meines Urgroßvaters ist noch in diese Synagoge einige Stufen hinaufgegangen!”
“Aber Papa, zum Beten soll man doch hinauf zu Gott gehen und nicht hinunter!” Ich fühlte mich sehr weise.
“Du bist ein Narr, David, nicht deine Füße tragen die Gebete zu Gott. Das Licht der Seele kann aus allen Tiefen zu Ihm aufsteigen!” Und Vater betrachtete in stiller Andacht und Liebe diese alten, versinkenden Steine und versank selbst in ein tiefes Gebet. Als Vater endete, war in mir immer noch das “Ab” und “Auf” ein Problem.
“Aber Papa, warum ‘versenkt’ sich der Mensch in sein Gebet?”
“Weil der Mensch aus seinem Hochmut erst einmal zu seiner Seele herniedersteigen muss, damit dann das Licht der Seele emporsteigen kann. David, in dieser Synagoge sind die Gebete aus den Tiefen der Seelen zu dem Allmächtigen gestiegen.”
Der Tempeldiener, der Vaters Worten lauschte, sagte ganz begeistert: “Ja, Herr Rabbiner, so war es! Aber jetzt gibt es nur noch wenige Familien hier und nicht alle kommen zur Synagoge.” Traurig schaute er zu den großen Bäumen auf, in deren Schatten die versinkende Synagoge zu schlafen schien.
Unser Heimchen, nicht ohne Lieblichkeit, war schon von Mutter und den Schwestern eingerichtet. Es lag zwischen der Wohnung des Rabbiners und des Tempeldieners in einer langen Häuserflucht. Seltsam, hier stiegen wir einige Stufen herauf in unsere Wohnung. Ich habe später gelacht, Gott möge mir verzeihen, wenn Vater ‘verklärt’ aus der Synagoge kam und Ab und Auf, Auf und Ab der Eingänge verwechselte und stolperte.
Alles schlief schon, als wir uns endlich auf die Strohsäcke legten. Für Vater und Mutter gab es zwei mit Holzschnitzerei schön verzierte Alkoven zum Schlafen.
Schon beim ersten Sonnenstrahl machten wir mit dem täglichen Leben hier Bekanntschaft. Der noch junge Rabbiner hatte schon unzählige Kinderchen. Mal übertönte sein Beten ihr Geschrei, aber meist waren sie die Lautesten, bis auf die Momente, wo die Posaune der Räbbetzen erschallte, deren Hand wohl ebenso kräftig wie ihre Stimme war, was dann mit Tränen und Wehgeschrei endete. Vater flüchtete oft in die Synagoge und ich blieb allein bei meinen Büchern zurück. Wir aßen fast nichts, aber unsere Gesundheit war sehr gut.
Mutter sagte: “Ein heiliges Dorf, hier müssen wir von Licht und Liebe leben.”
Vater bekam Zahnschmerzen.
“Guter Gott, warum ich, der ich weder Kuchen noch Pralinen esse?” Er war süß in seinen Schmerzen, schaute Mutter wie ein Liebhaber an, und sie legte ihm vorsichtig Kamillenteekompressen auf die Wange. Endlich musste der Zahn doch mit einer großen Zange gezogen werden. Alle standen um Vater herum. Vater war heroisch und sagte kein Wort, bis das Blut in seinen schönen Bart floss. Es wurde beschlossen, zu Vaters Genesung die große Henne zu opfern, die wir heimlich im Haus versteckt hielten. Wie war ich froh, sie den Schwestern anvertraut zu haben!
Aber das Wichtigste, das ich hier in Oroszwár erlebte, war, wenn der Kantor, also Vater, die Seelen seiner Gemeinde mit hinauf zum Allmächtigen nahm. Die alte Synagoge erwachte bei Vaters Gesang. Und sie füllte sich wieder mit mehr und mehr Seelen. Der alte Tempeldiener strahlte vor Freude.
Vater sagte zu mir: “David, hier ist es, als ob viele Seelen aus der Vergangenheit mit mir zusammen aufwärts steigen.”
Und wie liebte ich Vater, wenn er sang! Damals wusste meine Seele noch nicht, dass sie mit der selben Kraft begabt war.
Aber nun kam ein geschichtliches Ereignis! Eines Morgens eilte sehr gewichtig und aufgeregt der junge Rabbiner zu Vater.
“Die ‘geschichtliche Delegation’ der jüdischen Gemeinde von Oroszwár wird diesen Sonntag unter meiner Leitung die vorgeschriebene Stopfgans als Dankgeschenk der Fürstin im Schloss darbringen!”
Vater bemerkte: “Hat man keine bessere Danksagung finden können?”
“Nein, Herr Tulman, so ist die Tradition! Ich habe die Begrüßungsrede zu halten und ich segne die Fürstin. Danach stimmen Sie die Nationalhymne an. Aber alles muss sehr eindrucksvoll werden!”
Es folgten aufregende Vorbereitungen in der Gemeinde. Vor allem wurde die prachtvollste Gans gewählt. Ich durfte sogar, meiner Sopranstimme wegen, als letzter den Aufmarsch beendigen. Mutter kaufte schwarze Schuhcreme, um alle Altersfalten unserer Schuhe zu verbergen und steckte kleine Kartonstücke in die Löcher. Der Erfolg war ‘glänzend’!
Der bewusste Sonntag kam heran. Die auserwählte Gans thronte reich geschmückt mit den Nationalfarben auf dem traditionellen riesigen Silbertablett. Sie sah sehr stolz aus, war aber so schwer, dass sie kaum auf ihren Beinen stehen konnte. Alles hatte sich in der Synagoge versammelt, um den Abmarsch zu bewundern. Dann ging es los. Der Tempeldiener trug die Nationalfahne voraus. Dann kamen die vier Gemeindevorsteher mit dem silbernen Tablett auf ihren Schultern. Dann der Rabbiner, gleich hinter der Gans, dann der Kantor und einige Notabilitäten der Gemeinde und ich am Schluss. Es war so vorgesehen, dass unser Aufmarsch durch ganz Oroszwár ging, aber erst nach Beendigung der Gottesdienste in den Kirchen, zur Freude der in ihren bunten Sonntagstrachten Spalier stehenden Christen. Wo wir auch vorbeikamen, entblößten die Männer ehrfürchtig ihr Haupt und die Frauen neigten die Köpfe. Was war denn da los? Endlich verstand ich. Die Ehrenbezeugungen galten der Nationalfahne, nicht der Gans!
Zwei prachtvolle Lakaien öffneten uns das große Parktor. Erstaunlich geschnittene Bäume und Hecken sah man dort, danach erschienen riesige Wiesen und Blumenbeete, dann Teiche mit aufsprudelnden Wassern, die auf unbekleidete Figuren herunterfielen. Durften wir solche Dinge anschauen?
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