David Victor & Paloma Tulman
Mit der Kraft
zu lieben
Der Lebensweg des
David Victor Tulman,
genannt der “rote Rabbiner”
aufgezeichnet von
seiner Tochter Paloma
Lindemanns Bibliothek
Den Blick in die Zukunft gerichtet
ist dieses Buch wahrer Erlebnisse
dem Nachdenken gewidmet.
Lindemanns Bibliothek
Dieser Band herausgegeben von Thomas Lindemann
und Dr. Bernd Villhauer
Redaktionelle Mitarbeit:
Kurt Fay
Ariane Lindemann M.A.
Brigitte Stocker
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme:
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise,
ohne Genehmigung des Verlages nicht gestattet.
Lindemanns Bibliothek erscheint im INFO Verlag
© 2000 · INFO Verlag GmbH
www.infoverlag.de
ISBN 978-3-88190-976-1
Vorwort
Manche Menschenleben scheinen alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Wir hören oder lesen erstaunt, wie vielfältig und abenteuerlich solche exemplarischen Lebensläufe das in einem umfassen, was uns sonst nur auf viele Biografien verteilt begegnet. Als würde ein Maler versuchen, in einem Bild alle seine Möglichkeiten darzustellen und je länger wir das Bild betrachten, desto mehr Details und überraschende Perspektiven entdecken wir in seiner Komposition.
In dieser Weise komponiert erscheint einem auch das Leben des David Victor ben Morenuraw Eliahu Tulman. Von einem winzigen ungarischen Dörfchen in die Zentren der Welt, von extremster Armut in große Paläste, von religiöser Enge zu einem weltumfassenden humanistischen Verständnis – ein Denk- und Lebensweg von fast monumentaler Größe, der einen manchmal betreten auf sich selbst blicken lässt.
Unter vielen Motiven kann man versuchen, dieses Leben zu ordnen und zu verstehen – eines der wichtigsten ist die Radikalität des Glaubens. Im Geiste der orthodoxen Lehren des östlichen Rabbinats erzogen, in kompromissloser Strenge auf ein Leben mit den heiligen Schriften und den Ritualen des Judentums vorbereitet, wurde die Glaubensbereitschaft des Kindes nicht erstickt, sondern zu einer Überzeugung geformt, die den erwachsenen Mann später stets begleitete. Trotz der weltanschaulichen Entscheidungen für die kommunistische Räterepublik, für den Dialog mit den anderen Religionen, für einen offenen und manchmal provokativen Lebensstil war David Victor Tulman vor allem eines: ein gläubiger Jude.
Und seine Entwicklung zeigt, dass starker Glaube, Ernsthaftigkeit im Religiösen und Spirituellen durchaus vereinbar sind mit Entwicklungsfähigkeit und einem offenen Blick in die Welt, ja manchmal sogar gerade Voraussetzung dafür sein können. Wir alle, denen die Welt des “Stetls” ins Melancholisch-Pittoreske entrückt zu sein scheint, haben Grund, uns auf die Lehren eines solchen Lebens einzulassen. Gegenwärtige Debatten über die Wertfundamente moderner Gesellschaften zeichnen nämlich oft ein verkürztes Bild: es scheint, als hätten wir nur die Wahl zwischen einerseits einem “Mullah-Regime” wie es Fundamentalisten aller Richtungen und Religionen zur Bewältigung der Verwerfungen von Modernisierungsprozessen anstreben, einer streng weltanschaulich-religiös ausgerichteten Gemeinschaft also, und andererseits der libertären Konsumgesellschaft, die zwar ein angenehmes “Laissez-faire” zulässt, ihre Mitglieder aber immer lebens- und sozialunfähiger macht. Was jedoch bei Tulman im Persönlichen deutlich wird, ist vielleicht auch gesamtgesellschaftlich plausibel: die Energien des Glaubens und die Hoffnung auf grundsätzliche ordnende Prinzipien der Welt können ausgerichtet werden in den Koordinaten einer toleranten und entwicklungsfähigen Gemeinschaft aller Menschen.
Denn “Mit der Kraft zu lieben” ist auch ein gewaltiger Appell für Toleranz und gegenseitige Anerkennung. Dieses Verständnis und seine Grundlagen, die in einem umfassenderen Verständnis auch der geistigen und mystischen Dimensionen des Lebens liegen, war ein besonderes Anliegen Tulmans. Besonders an die Deutschen war seine Botschaft gerichtet, nicht als Anklage oder um den vielen (notwendigen) Darstellungen der NS-Verbrechen noch eine weitere hinzuzufügen, sondern weil er den nachfolgenden deutschen Generationen einen Weg aus der dunklen Vergangenheit mit ihren Engstirnigkeiten und Überheblichkeiten, aber auch mit den Selbstanklagen und Hypermoralisierungen der Nachkriegszeit zu zeigen versuchte. Daher wollte er seine Arbeit unbedingt in deutscher Sprache veröffentlichen.
“Auf dem Weg zur Verbrüderung der Religionen” steht auf dem Grabstein von David Victor Tulman geschrieben, der auf dem Ölberg in Jerusalem begraben liegt. Dass hier schon einer auf diesem Weg weit vorangekommen war, kann allen Menschen Mut machen.
Bernd Villhauer
Das erste Buch
Bei Vater und Mutter
Meiner Eltern Liebe war immer mit mir bei meinem lan- gen Wandern. Die Strenge meines Vaters und die Innigkeit meiner Mutter haben mich geformt, behütet und durch die Schrecken der Welt geführt. Sie gaben mir die Kraft, immer neu das Licht hinter der Dunkelheit zu suchen und so zu immer neuen Erkenntnissen zu gelangen. Sie gaben mir die Kraft zu lieben. Ich danke ihnen mit meiner ganzen Seele dafür.
Ein alter hebräischer Text sagt: “Liebe alles, was um dich ist, denn es ist so geschaffen wie du selbst”, das heißt, liebe die Menschen, die um dich sind, liebe die Tiere, liebe die Pflanzen und liebe die Erde. Sind wir nicht alle aus ihrem Staub erschaffen?
Kurtakeszi
Ja, etwas entsinnt sich in mir an alles, was in meinem Elternhaus geschah. Schon ab meinem fünften Lebensjahr wird es ganz deutlich.
Es war in Kurtakeszi, im ersten Dörfchen meiner Erinnerungen, die nun zu lebendigen Bildern unseres Lebens werden. Kurtakeszi war mein “lichtiges Dörfchen”!
Im März 1906 war es, als ich eben meine fünf Jahre erreicht hatte. Unsere Familie wohnte in diesem kleinen Dorf zwischen der Donau und dem Fluss Sajó im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Seither haben sich Grenzen und Namen mancher Ortschaften hier geändert, was mir melancholische Gedanken kommen lässt.
Meine Eltern stammten aus Russland, sie waren vor den dortigen Pogromen bis nach Ungarn geflohen und hatten auch hier schon manchen Ort wechseln müssen, denn wir waren Juden und mein Vater sogar ein Rabbiner. Vor den Menschen war er ein sehr armer Rabbiner, aber ich bin sicher, so es einen Gott gibt, war er vor Ihm reich und prachtvoll in seiner großen Andacht. Und wenn Gott Liebe verteilt, so waren meine Eltern fürstlich beschenkt; so fühlte ich es. Unser kleines Haus auf Erden hatte ein dickes und dichtes Strohdach und war von außen wie von innen ganz weiß getüncht, aber seine Deckenbalken und Fensterrahmen waren von der Zeit und dem Rauch fast schwarz geworden, und unsere Füße liefen auf dem festgestampften Lehm der Erde. In unserem kleinen Haus war es aber warm, war es heimelig von Liebe.
Der “kleine David”, das war ich, saß schon am Tisch seines Vaters von morgens früh bis abends spät und studierte die heiligen Schriften, natürlich in Hebräisch, welches ich schon fließend lesen und sprechen konnte. Woran ich mich nicht entsinnen kann, ist, das Alphabet gelernt zu haben, mir war, als hätte ich es immer gekannt.
Als Sohn eines chassidischen Rabbiners wurden meine Haare an den Schläfen nicht geschnitten: das waren die “Päis”, geformt als zwei lange Ringellocken. Sonst hatte ich blonde Haare, blaue Augen, schon breite Schultern für mein Alter und der Rücken blieb mir gerade, trotz des frühen vertieften Studiums. Alles geschah ja bei uns “im Dienste für Gott”! So war es in unsere Seelen eingeschrieben und das gab sehr viel Kraft.
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