Und so endete meine Hühnergeschichte.
Der Friedhof
Es wurde Frühling. Aber unser Garten mit seinem ersten Grün lockte mich nicht mehr hinaus. Die Stille im Hühnerhaus trug meine Gedanken zu weit in jene Welt, wo, wie es scheint, die Seelen weilen. Vater war sorgenvoll. Er fühlte, dass unsere Anwesenheit den katholischen Geistlichen tief erregte und die Freundschaft des Bürgermeisters, in dessen Haus wir wohnten, ihm auch nicht gefiel. Diese Art Dinge bewirkten in Vater eine Traurigkeit, aber niemals Angst, denn Vater fühlte sich, wo er auch war, im Dienste Gottes. Als die Bauern am Sonntag aus der Kirche kamen und die Großgrundbesitzer in ihren Kaleschen heimfuhren, drang durch die ersten warmen Sonnenstrahlen plötzlich Geschrei und Jammern zu uns. Jüdische Frauen und Kinder eilten herbei, um sich bei uns in der Synagoge zu verbergen, derweil ihre Männer im Haus blieben, Hab und Gut zu verteidigen. Die Bauern seien mit wütendem Geschrei aus der Kirche gekommen, durch das Dorf gelaufen und dann zum Friedhof gerannt, hätten begonnen, Grabsteine zu zerschlagen, umzuwerfen und seien dabei, sie zu beschmutzen.
Vater sprang auf.
“Jetzt hat er, dieser Pfaffe, mich aufgerufen! Er hat das Heer seiner armen Bauern, die an ihn glauben sollen, gegen uns geschickt. Gegen mich, den Rabbiner! Gegen mich, den Juden! Gegen seinen Feind: mein Volk!”
Die Gestalt Vaters wurde unheimlich groß, in seinen Augen leuchtete es wie Flammen.
“David, gib mir meinen Stock und komm!”
Meine Beine mussten rennen, um Vaters Schritten zu folgen. Bald hörten wir vom Friedhof Lachen und Kreischen. Unser Weg lief abwärts, wir konnten das ganze Spektakel übersehen. Die nackten Hinterteile der Burschen erweckten das Beifallskreischen der Mädchen, derweil die umgeworfenen Grabsteine besudelt wurden. Ältere Bauern und Frauen hielten etwas Abstand, aber sie lachten befreit und belustigt.
Mein Vater trat, wie vom Himmel gefallen, genau in ihre Mitte. Es wurde plötzlich still. Man wich zurück. Das Lachen verstummte.
“Ja, da bin ich! Der Rabbiner! Der Jude! Und ich sage euch: Euer Jesus war auch ein Jude. Jesus würde sich euer schämen. Jesus, der Jude, hat von Liebe gesprochen! Sind eure Seelen so verführt, dass ihr an den Toten Ungerechtigkeiten begeht? Hier bin ich! Ein Lebendiger! Hat Jesus euch gelehrt, ohne Scham zu sein? Hat Jesus, der Jude, gelehrt, über Unreinheit und Schamlosigkeit zu lachen?”
Ein junger Mann warf einen Stein, der dicht neben mir auf ein Grab fiel. Da hob Vater seinen Stock, fürchterlich groß erschien er, und schritt auf den jungen Mann zu.
“Sieh, ich bin da! Der Rabbiner! Ich bin allein. Allein gegen euch alle. Aber Gott ist mit mir! Und auch der Jude Jesus!”
Und sie wichen zurück, zogen ihre Hosen hinauf und glitten verschüchtert vom Friedhof. Einige Bauern murmelten: “Es ist eine Schande, was geschah.” Eine Frau schrie: “Die Gendarme kommen. Die Gendarme, die schwarzen Raben!”
“Holt Schaufeln und Eimer aus dem Friedhofshaus, um eure Schande abzuwaschen!”, sagte Vater. “Helft mir, die Steine aufzurichten!”
Und die Bauern kamen. Die Gendarme, die das Volk ‘schwarze Raben’ nannte, erschienen, mit ihren stolzen Federn am Hut.
“Was geht hier vor?” fragte einer erstaunt.
Vater antwortete: “Es ist etwas vorgefallen, aber wir werden es reparieren. Sie können weitergehen, wir machen zusammen Ordnung.”
Vaters Worte erstaunten das Volk: Keine Klage, keine Beschuldigung?! Still beschämt wurde weiter Ordnung gemacht. Darauf gingen alle gedrückt nach Hause. Vater und ich blieben allein auf dem Friedhof zurück. Vater schaute zum Himmel als wenn er in weiter Ferne zu Gott sprechen würde, dann stimmte er das ‘El mole rah’amin’ an, das Gebet für die Toten.
Dann holte ich Vaters Stock und wir gingen hinunter zum Bach, uns gänzlich zu waschen und dreimal unterzutauchen.
An diesem Sonntag blieben die Schenken leer, trotz der lockenden Sonne. Daheim angekommen, küssten die jüdischen Frauen und Kinder Vater die Hände und wanderten dann auch zu ihren Häusern zurück. Vater trat still in die Synagoge, öffnete den Schrein der Thora, warf sich, das Gesicht zu Boden, auf die Erde und weinte bitterlich. Nicht wegen der Geschehnisse in Bakony-Tamasi, nein! Ihn schüttelte aus den Tiefen der Vergangenheit alles Leid des Volkes Israel, die kindische Verführbarkeit der Christenwelt. Mir war, als ob der Messias selbst in Vater schluchzte.
Es dauerte lange, bis er zur Ruhe kam.
Der Abschied
Es folgten stille Tage im Haus, wie auch im Dorf. Man sprach in Bakony-Tamasi nicht vom Friedhof, man flüsterte nur. Nach langer Abwesenheit erfuhr der Bürgermeister entsetzt die Geschehnisse. Er klopfte noch spät am Abend an unsere Tür, trat mit weit aufgerissenen Augen ein und eilte zu Vater: “Herr Rabbiner, Herr Rabbiner, ich war nicht da. Ich hörte erst jetzt von den Geschehnissen.” Darauf wandte er sich um und verschwand in der Nacht. Vater sagte: “Channe Fegele, in diese Gemeinde gehört ein kleiner, schüchterner Rabbiner, der in dem katholischen Geistlichen keine Eifersucht erregt. Der Bürgermeister wird die Juden schützen. Ich schrieb an mehrere Gemeinden um einen Austausch; wir werden Bakony-Tamasi verlassen.”
Ein kleiner, junger Rabbiner kam von Oroszwár, einem Dorf neben Pozsony, mit einem Brief: Vater könne sofort im Austausch den Posten eines Kantors antreten.
“David, geh zum Bürgermeister und mach mir einen Termin bei ihm.” Nicht Vater ging zum Bürgermeister, aber der Bürgermeister kam sofort mit mir zurück.
“Herr Rabbiner, ich habe mir erlaubt, sogleich mit ihrem Sohn zusammen eine gute Nachricht zu bringen. Ich erhielt soeben als Antwort auf mein Ersuchen bei seiner Heiligkeit, dem Bischof, dies Schreiben.”
Und er las: “Ich wünsche Religionsfrieden und enthebe den Geistlichen von Bakony-Tamasi seiner Funktion.”
Diesmal strahlten die Augen des Bürgermeisters froh. Vater war aufgestanden, reichte ihm die Hand. Ich erschrak. Die beiden großen Männer umarmten sich wie zwei Brüder. Es wurde mir warm im Herzen. Sie waren beide in einer anderen Welt, wo man sich nicht hasst und steinigt. Niemals mehr habe ich gesehen, dass Vater einen Mann umarmte. Dann sprach Vater traurig: “David, hole den neuen jungen Rabbiner herein.”
“Er ist in der Synagoge, Papa, und betet.”
“Herr Bürgermeister, Ihr Haus hat eine Synagoge beherbergt, möge Gottes Güte mit Ihnen und den Ihren sein.”
Dann gingen sie zusammen zur Synagoge.
“Hier ist schon Ihr neuer Rabbiner im Gebet. Wir wollen ihn nicht stören, er tauschte mit mir seinen Platz.”
Zwei seltsam verschiedene Freunde schauten einander an in einer stillen Traurigkeit und verabschiedeten sich.
Die Nachricht unserer Abreise hatte sich schnell verbreitet. Zu uns kam noch schnell manche Bäuerin gelaufen und steckte, wie heimlich, ein Geschenk für Mutter in den Wagen: ein Säckchen Bohnen, Mehl, Erbsen, einen Topf mit Butter. Sie alle hatten Mutter sehr geschätzt, ja geliebt, denn Mutter hatte nicht nur die Kleider, sondern auch die Seelen darin ausgebessert.
Als Vater zum Kutscher heraufstieg, bekreuzigte sich ein “ganz kleines Völkchen”, das herbeigelaufen war, und sie neigten die Köpfe, als würden sie einen Segen von Vater erwarten.
“Möge der Friede hier einziehen, Friede ist Gott gefällig”, sagte Vater und segnete sie. Die Pferde zogen schon an, da rannte im letzten Moment Peters Mutter herbei.
“Halt, halt! David, hier nimm sie! Sie ist meine Größte, sie ist meine Schönste! Sie ist die, die die meisten Eier legt. Du wirst wieder viele Hühnchen bekommen, die du so geliebt hast.”
Und der Wagen führte uns aus den Mysterien des großen Waldes Bakony in eine neue Welt.
Oroszwár
Reisen bedeutete aufregende Abwechslung, vor allem war Vater dann aufgeschlossen.
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