“Sind wir nicht die Ärmsten der Armen?” hatte Mutter einmal gesagt und Vater antwortete: “Gott will es so. Zehn Prozent sind nicht für uns!”
Eines Abends beim Milchholen lief mir eine Gruppe Schulkameraden nach und ich hörte sie hinter mir schreien:
“Da ist der Jude! Da ist er! Der Jude!”
Ich wollte mit ihnen sprechen und drehte mich um. Da flog mir ein Stein an die Stirn. Das Blut rann schnell in die Augen, aber ich hatte gesehen, wer den Stein warf. Aufrecht, aber doch ein wenig schwankend, ging ich sehr langsam heim. Ich war “Jude” geworden. Sie liefen mir nicht nach. Mutter wusch mit zitternden Händen die Wunde und meine Kleider.
“Mamme, es war der Nachbarsohn.” Zu Vater sagte ich, ich wäre auf einen Stein gefallen. Diesmal beschaute er die Wunde.
“Bis zur Zeit, wo du mit Tephilin beten darfst, wird sie geheilt sein.”
Die Narbe ist geblieben, aber die Hoffnung, einmal die heiligen Gebetssprüche auf meiner Stirn zu tragen, war mir Balsam, denn dies bedeutete, die heiligen Gebote wirklich im Inneren zu tragen und danach zu leben, also ein “frommer” Jude zu sein. Meine Wunde tat nicht mehr weh, aber mein ganzes Inneres.
Am Morgen kam die Nachbarin mit Butter und Eiern für mich, setzte sich lange an mein Bett, nickte eine ganze Weile mit dem Kopf und sagte: “Ich habe aber Peter tüchtige Ohrfeigen gegeben! Der Geistliche hat im Katechismus zu den Kindern gesagt, dass die Juden den Heiland getötet haben, da wollte Peter in seiner Wut einen Juden töten. Er ist aber sonst kein schlechter Junge, mein Peter!”
Mutter stopfte eben Peters Hemd. Die gute Frau war sehr gerührt und rang die Hände: “Pop-Neni (Tante Geistliche), seien Sie nicht böse, kommen Sie bitte weiter zu uns herüber. Wenn Sie den Gendarmen nichts erzählen wollen, wird der gute Heiland Sie sicher dafür segnen.”
“Gut, gut”, sagte Mutter.
So verstrichen einige Wochen. Vater ging manchmal erregt im Zimmer auf und ab. Diesen Abend schien er sehr vertieft; ich profitierte davon und schlich mich leise hinaus, denn wir drei Geschwister wollten zur Sandgrube gehen, wo man so herrlich herunterrutschen konnte. Die Sonne stand noch am Himmel. Viele Kinder liefen auf dem gleichen Weg entlang und wir sahen den Herrn Lehrer, der auch der Dorfgeistliche war, mit einigen Großgrundbesitzern, ihre Büchsen geschultert, zur Grube zum Zielschießen gehen; die große Scheibe wurde am anderen Ende etwa dreissig Meter entfernt aufgestellt und die Herren begannen ihre Künste zu prüfen. Wir sahen jedesmal eine kleine Flamme aus dem Gewehr aufleuchten. Es war aufregend und so wir vergaßen zu rutschen. Plötzlich verlor die Zielscheibe ihr Gleichgewicht. Der katholische Geistliche rief mir zu: “David, stell sie wieder auf!”
Ich fühlte mich sehr geehrt und rannte eilends los. Kaum hatte ich meine Arbeit verrichtet, da ertönte ein Schuss. Verwirrt hörte ich aufgeregte Rufe. Karoline und Frieda rannten herbei, mich vom Platz reißend. Da kamen auch die Herren, um zu sehen, ob mir nichts fehle? Höhnisch sagte der Geistliche: “Sehen Sie, meine Herren, es ist ihm nichts geschehen, seine Seitenlocken werden keine Feuersbrunst ins Dorf tragen. Sie haben noch nicht Feuer gefangen.”
Plötzlich verstand ich und schrie: “Der Gott, der den Blitz und das Feuer ins Dorf geschickt hat, der Gott wird auch den Blitz zum Herrn Lehrer schicken! Amen!”
Karoline erzählte daheim erregt die Geschehnisse. Vater erhob sich sehr langsam und schwer, ging zum Schrank, wo sein Stock stand, holte ihn heraus und ein erstes Mal fühlte mein Rücken seine sehr harten Schläge. Vater sagte kein Wort. Ich weinte nicht. Ich lief nicht fort. Ich verstand “die Gefahr” draußen. Ich verstand, dass Vaters Liebe mich schlug. Ich verstand, dass ich ein Jude war. Dann gab Vater mir den Stock in die Hand. Ich durfte ihn zurück in den Schrank stellen.
Die Zadekeste
Wie fröhlich war es, wenn unser ‘König David’ und ich zusammen den Sonnenaufgang begrüßten. Er schmetterte laut sein Aufwecklied, ich betrachtete, wie das feurige Licht in den Himmel floss und dachte, das ist die unhörbare Musik, von der Vater sprach. Meine Lieblinge schüttelten derweil ihre Federn und kamen, mir die Maiskörnerchen vom Mund zu picken; dies war unsere Begrüßung, wir hatten uns wirklich gern. Aber der Kukurutzsack des Bürgermeisters wurde leer. Vater ging im Herbstregen seltener in die umliegenden Dörfer “zu seinen Juden”, wie er sagte. Es fehlte Futter und meine nun großen Gänse hatten sehr großen Appetit. Bald fing der erste Schnee zu fallen an und plötzlich hörte ich die Worte der Frauen wieder: “Fett und Fleisch für den Winter.” Ich erschrak. Ich erschrak sehr.
Und es geschah tatsächlich, dass auf unseren Tisch zu Ehren des heiligen Sabbat Fett und Fleisch kamen, dass es in der großen Suppenschüssel Geflügelbrühe gab. Langsam wurde es stiller und stiller in meinem Hühnerhaus. Eines Tages begrüßte auch ‘König David’ den Morgen und mich nicht mehr. Die Sonne stieg ohne Freude zum Himmel hinauf. Statt “Gottes unhörbarer Musik” tönte es in meinen Ohren “Fett und Fleisch für den ganzen Winter” und ich weinte, weinte bitterlich.
Rachel, die letzte, wollte nicht mehr alleine im Hühnerhaus bleiben, sie lief mir nach in die Küche; sie legte sich wie schutzsuchend zu Vaters Füßen und blieb dort liegen, derweil Vater studierte. Es wurde ihr Platz. Sie lief hinter Vater her, wenn er im Zimmer auf und ab ging. Vater duldete Rachel sogar auf seinen Knien und streichelte sie. Jeder gab ihr von seinem Teller etwas, so wurde sie eine große Henne und eines Tages legte Rachel uns ein Ei! Es wurde allerseits bewundert und sie schien sehr glücklich darüber zu sein. Rachel folgte Vater jetzt auch bis zur Synagoge. Da geschah es eines Tages, dass Vater, vertieft im Morgengebet, sie nicht beachtete und ihr auf den Fuß trat. Rachel schrie laut auf, lief aber dann dennoch hinkend hinter ihm her zum Studierzimmer zurück. Vater war gerührt und sagte mit freundlicher Stimme leise vor sich hin: “Zadekeste”. Das heißt etwa: “gütige Weise”.
Der Winter wurde härter und kälter, Vater musste fast gänzlich unsere Wanderungen einstellen, der Schnee lag zu hoch. Eines Freitagmorgens kam ein junger Sakrifikateur zu Vater, um Rat zu erbitten. Vater schickte mich hinaus und ich half Mutter in der Küche, unsere Gänsefedern schleißen. Dies wurde der Tag, an dem Rachel unsere Welt verließ, der heilige Sabbat, an dem sie ihre irdische Güte an uns verteilte. Es wurde der Tag, an dem ich keinen Bissen herunterschlucken konnte. Vom Jenseits blickte Rachel zu mir hernieder, mit viel stiller Güte, derweil ich fastete. Gott ließ unsere ‘Zadekeste’ auf meine Großgrundbesitzerwünsche und Ideen der Gerechtigkeit antworten.
Die Arten des Hungers
“Papa, warum ist das Messer des Sakrifikateurs von beiden Seiten so aufs Feinste geschliffen?”
“Damit den Tieren kein Leid geschehe, dass ihre Seele ohne Schmerzen in Gottes Licht gleite. Sie sind seine Geschöpfe.”
“Warum hat der Sakrifikateur Rachels Seele zum Allmächtigen geschickt und nicht du?”
“Wenn du ein Tier gerne hast, ist deine Hand nicht ruhig. Ich durfte es nicht, meine Hand hätte gezögert und ich hätte Rachel weh getan.”
“Papa, wir haben alle Rachel gern gehabt, warum durfte sie nicht bei uns bleiben und im Frühling Kinder haben? Sie legte doch schon Eier?”
“David, es ist nicht unseres Bleibens hier in Bakony-Tamasi! Du wirst keinen Garten und kein Hühnerhaus mehr haben. Wir hätten Rachel nicht mitnehmen können. Aber ihre kleine Seele, die wird immer mit uns gehen!”
“Ja, Papa, das habe ich gefühlt! Aber ich glaube, viele Menschen haben die Tiere nicht gerne, sie lassen sie nur arbeiten, schlagen sie und essen sie auf.”
“Das sind schwere Gedanken, David. Mir scheint, es kommt daher, weil viele Menschen nur den Hunger ihres Magens fühlen und sie glauben, nur er sei zu stillen. Der wahrhaftige Hunger des Menschen kommt viel tiefer aus unserer Seele, das ist der Hunger nach Liebe. Und nur der Mensch, der geliebt hat, dessen Hunger ist gestillt! Das wissen nur wenige Menschen, David.”
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