Ich war gekränkt und antwortete couragiert: “Warum darf Lajos das und ich nicht?”
Hätte das laute Lachen der Anwesenden mich nicht gerettet, wäre dies der Anlass zu einer tüchtigen Tracht Prügel gewesen.
Der Altersunterschied zu Lajos hatte mich nicht beeindruckt. Seine Hochzeit blieb die einzige Begegnung zwischen uns Brüdern, bis zu Vaters Beerdigung. Aber seine traurigen Augen haben mich später manchmal angeschaut, und ich lernte meinen “stillen Bruder” auf den langen Wegen, Rabbiner zu werden, lieben und verstehen.
Die Hühnchen
War es zu Lajos’ Hochzeit die herrlich gebratene Hühnerkeule auf meinem Teller, die mir keine Ruhe gab? Warum sollten wir nicht, wie alle Menschen, auch das Recht haben, wenigstens einmal in der Woche, zu Ehren des Sabbat, Fleisch zu essen? Es kam mir eine Idee, um nicht länger diese Ungerechtigkeit zu dulden: Bei Sonnenuntergang, wenn die Mutterhennen ihre kleinen Küken zum Schlafengehen rufen und über den Weg mit ihren Kindern heim eilen, mir ein kleines einzufangen. Ich bin dann schnell damit nach Hause gelaufen. Mutter war entsetzt!
“Mamme, es ist ein verirrtes Hühnchen, ich habe es von der Straße gerettet. Darf ich es großziehen? Es wird uns Eier legen, Kinder auf die Welt bringen. Wir werden wie alle Menschen Hühner haben.” Mutter nickte.
Es sind langsam aus dem einen Hühnchen etwa siebzehn “Verirrte” und “Gerettete” geworden. War ich ein Lügner?
Meine Weltanschauung der Gerechtigkeit hielt allen Zweifeln stand. Ich wollte sie selbst vor Gott verantworten. Die Küken schliefen mit mir in der Küche, bekamen Tellerchen mit Wasser und Brot wie wir. Mutter half bald, eine kleine Leiter zu machen, weil die Hühnchen jetzt schon eine gewisse Höhe zum Schlafen suchten. Eines Tages schlich eine Katze herein; es gab großes Geschrei. Vater kam aus seinem Studierzimmer.
“Was ist hier geschehen?”
“David hat Hühnchen bekommen, er will sie großziehen”, sagte Mutter.
“Und wo ist die Henne?”
“Papa, es sind Waisenkinder, ich will die Henne sein!”
“Soll’s sein, wenn du dein Studium nicht vernachlässigst”, sagte Vater.
Glücklich rannte ich, in der Hand irgendeine heilige Schrift, mit meinen Hühnchen im Garten herum. Wenn ich wie eine Henne rief, rannten sie mir nach wie einer Mutter. Beim Essen standen sie um mich herum, pickten von der Hand und auch aus meinem Munde! Ach, wie waren sie alle süß! Bauern, die vorbeigingen und sahen, wie ich mich mit den Hühnchen abgab, lächelten. Am Abend rief ich sie zum Schlafen und wir rannten in die Küche. Am Morgen sprangen sie auf mein Bett, meinen Strohsack und machten Krawall, sie wollten nämlich essen. Jedesmal, wenn ich Vater auf seinen Wegen in die umliegenden Dörfer begleitete, habe ich für meine Hühnchen Kukurutz, das ist Mais, erbeten. Nie hätte ich so etwas für mich selbst gewagt, aber für meine Kinder hatte ich viel Courage. Sogar Vater fragte lächelnd: “Gibt es etwas für Davids Hühnchen?” Man sagte schon: “David wird noch ein Großgrundbesitzer werden.” Die Bauern zogen ein bisschen an meinen Päis und ich erhielt Hühnerfutter. Der Sack auf meinem Rücken war mir niemals zu schwer. Zuhause angekommen, rannten sie uns entgegen, einige versuchten schon ihre Flügel. Vater hatte auch seine Freude daran, denn ich habe trotz allem mein Studium nicht vernachlässigt.
Eines Tages erkrankte ein Kleines. Erschüttert hob ich es auf und rief alle Hühnchen zusammen. Sie waren gar nicht gerührt von diesem Unglück, und in der Gleichgültigkeit seiner Geschwister starb das Hühnchen in meinen Händen. Mir war, als nehme Gott seine Seele und seine Wärme zu sich zurück. Ich weinte so sehr. Mutter half mir, es, eingewickelt in ein weißes Läppchen, in eine Schachtel zu legen. Ich erklärte meinen Schwestern, es sei so Sitte bei uns.
“Aber David,” sagten sie zu mir, “das Hühnchen ist doch nicht bei den Juden geboren!”
Es wurde am Zaun unseres Gartens begraben. Als ich es in das Grübchen legte, stand Mutter neben mir mit Tränen in den Augen ... Wer weiß, an was sie sich erinnerte. Von dünnen Hölzern gemacht, stellte ich ein Kreuz auf das Grab.
“Was machst du denn da?”, fragte Mutter.
“Es ist ja bei den Christen geboren, da gebührt ihm das Kreuz.”
“Wenn Vater das sehen wird?”
“Mamme, es ist nur Gerechtigkeit.”
Doch Vater bemerkte von alledem nichts.
Die Hühnchen wuchsen, meine Schwestern standen mir beim Namengeben bei: Die weiblichen bekamen die Namen der Stammmütter, die männlichen die der Stammväter. Einen nannten wir ‘König David’. Er war sehr schön und grüßte schon singend den Morgen.
Die Schule begann diesmal ohne mich. Vater meinte, dass mein weltliches Wissen ausreichend für einen frommen Juden sei.
“Soweit die Wissenschaften Gott dienen, wirst du sie langsam im Talmud finden. Es ist besser, dass du sie dort lernst als in einer weltlichen Schule mit christlichen Anschauungen.”
So wurde ich mehr und mehr in Vaters Studierzimmer gerufen. Die Hühnchen wurden zu Hühnern. Zum Austausch für Mutters Arbeit baute uns der Nachbar im Garten ein richtiges Hühnerhaus. Er sagte: “Einige deiner Hühnchen, David, sind von der selben Rasse wie die unsrigen.”
Ich wurde rot vor Schreck und Scham. Er schien sich aber gar nicht darüber zu wundern, stellte ruhig in die Mitte des Hauses eine stolze, breite Hühnerleiter.
“David, unten ist der Platz für die Gänse.”
Gerechtigkeit
Es erwachten nun meine Großgrundbesitzerideen: Welches ungarische Haus kennt nicht die berühmten Stopfgänse!
“Schmalz für den Winter”, sagten die Frauen.
Ich hörte von diesen Stopfgänsen sogar in der Synagoge sprechen, derweil Vater sehr ernsthaft aus der Thora las und Mutter leise in ihr Gebetbuch hinein lächelte. Ach, wie liebte ich Mutter! Darum stahl ich mich manchmal aus der Männerseite unseres Synagögchens zu der Frauenseite hinüber und Mutter flüsterte: “Schnell, David, geh zurück!” Aber sie freute sich doch über mein Wagnis.
Die Frauen erzählten sich einmal von fünf oder sechs Gänsen, die sie schlachteten, so gab es Fett für den ganzen Winter. Bei uns gab es diesen Abend Bohnensuppe mit kalten Kartoffeln. Fleisch und Fett im Winter zu essen schien mir Ausdruck der Gerechtigkeit der Welt und ich hoffte auf Gottes Hilfe.
Es kam nun Jossele, ein zwölfjähriger Junge zu Vater, seine Bar-Mitzwa vorzubereiten. Er brachte jedesmal etwas Gänseschmalz als Geschenk für Mutter mit. War dies schon ein erstes Zeichen, dass der Allmächtige meine Wünsche verstand?
Endlich kam auch der Moment, es war ein Sabbat, an welchem die Bar-Mitzwa gefeiert wurde, und Jossele musste sein Können beim Lesen der Thora zeigen, um als Mann in der Gemeinde wirken zu dürfen. Seine Eltern luden alle Juden des Dorfes zum Feste ein, auch einige christliche Großgrundbesitzer saßen am selben Tisch mit Vater und dem Bürgermeister zusammen. Viele Neugierige kamen um zu sehen, wie man bei den Juden feierte. Es gab Tee mit Branntwein und viel Kuchen! Vater trank nur Tee.
Alle Leute baten jetzt Jossele, den neuen Mann, er möge seine Geige holen, um das berühmte ‘Kol Niedere’ zu spielen. Er war von allen Aufregungen so überwältigt, dass der zarte Jossele zitterte, es kam aus seiner Geige nur Krächzen wie Katzenjammer heraus. Dicke Tränen rollten über sein Gesicht.
Vater stand auf und rief ihn zu sich: “Jossele, du hast eine sanfte, gute Seele, nimm dir viel Zeit für deine Geige. Man muss seiner Violine das Singen beibringen, auf dass sie singe, so wie deine Seele singen möchte! Du kannst einmal ein Meister werden, du hast eine singende Seele und alle Menschen werden dem Gesang deiner Geige lauschen. Dann wirst du dich erinnern, wie der Herr Rabbiner zu deiner Bar-Mitzwa auf deiner Geige gespielt hat, und du wirst dann meine Worte verstanden haben. Komm, gib mir die Geige.”
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