Die großen dunklen Augen der Kröte und die meinen haben sich angeschaut, ich glaube von Seele zu Seele. Ich hatte keinen Ekel mehr und keine Angst. Ihre Augen schauten voller Güte zu mir herauf, aber auch mit viel Traurigkeit, sie schienen mir zu sagen “trink, trink, David”. Und ich trank. Auch Vater trank. Wir gingen dann still zu unserer Straße zurück. Plötzlich sagte Vater: “David, geh zurück und schau, was die Kröte macht!” Sie war nicht aus dem Eimer gesprungen, nein, sie schwamm tot an der Oberfläche, den Bauch zum Himmel gewandt. “David, gieß das Wasser und die Kröte auf die Erde, alles kommt vom Staube der Erde und geht zur Erde zurück, nur die Seele wird frei und schwebt ins Licht.”
Und Vater erzählte von der Seelenbefreiung und Wanderung, von ihrem Aufstieg, langsam, langsam, Stufe für Stufe, zu Gottes immer hellerem Licht. So wandert der Staub, getragen von der Seele. So wandert alles Geschaffene, Stufe um Stufe in immer helleres Licht. Das ist der lange Weg zu den Messianischen Zeiten: den Zeiten der Erleuchtung.
“Es hat so sein sollen, dass wir hier vorbeikamen, dass uns dürstete, dass du, das unschuldige Kind, den Segen sprachst und trankst. Du hast die Seele der Kröte befreit, du hast dich nicht mehr vor ihrer Form geekelt. Lass uns hier unser Abendgebet verrichten. Stell dich zu mir David, wir werden mit unserer Seelenkraft ein Gehege um uns bilden, auf dass wir beim stillen Gebet geschützt sind.” Vater zeichnete mit seinem Stock einen großen Kreis um uns herum.
“David, erbitte dir Seelenkraft! Seelenkraft ist das Licht. Das Licht trägt mit sich den Staub und Gottes Liebe für sein Geschöpf.” Und wir beteten. Ich hatte mein stilles Gebet schon längst beendet, aber Vater noch nicht. Er stand, die Arme hoch empor zu Himmel gehoben. Wie stand Vater doch groß und prächtig da, als habe Gott ihm Schaffenskraft verliehen.
Da kam vom Brunnen her eine Riesenschlange gekrochen, sie züngelte und schlich auf uns zu. Es war die erste Schlange in meinem Leben. Ich kannte sie nur aus der Bibel, als sie zu Eva von bösen Sachen sprach. Und es steht geschrieben: “Der Mensch und die Schlange sind ewige Feinde.” Im stillen Gebet darf man niemand stören. Würde die Schlange in Vaters Schutzkreis kommen? Nein, sie blieb wirklich am Rande. Wir waren alle drei unbeweglich, nur Vater betete. Man hörte von weitem über die Straße einen Wagen kommen. Die Schlange machte plötzlich einen Bogen um uns herum und eilte über die Straße. Die vier Pferde des Wagens scheuten und rasten dann wie wild über die Schlange hinweg. Es war die Rettung! Der Kutscher hatte Mühe, die Pferde zu beruhigen, sie hatten weißen Schaum im Maul und auf den Flanken. Der Wagen drehte um und kam zu uns zurück. Es war der Bürgermeister von Bakony-Tamasi. Er drehte mich nach links, er drehte mich nach rechts und fragte, ob die Schlange uns nicht gebissen habe? Vater, der eben sein Gebet beendete, verstand sofort die Situation und sagte still: “Gottes Geist weilt in diesem Tale.”
Der Kutscher zerschlug mit seinem Peitschenkolben den Kopf der Schlange und sagte: “Solange die Sonne nicht untergeht, leben diese Biester noch. Sie ist eine giftige Schlange. Sie haben viel, viel Glück gehabt! Herr Rabbiner, steigen Sie mit ihrem Sohn zu mir in den Wagen. Sie sagten soeben ‘Gottes Geist weilt in diesem Tale’, ich möchte mit Ihnen darüber sprechen”, sagte der Bürgermeister. Vater weigerte sich erst, stieg dann aber doch vorne zum Kutscher auf den Bock. Wie war ich glücklich, nach so vielen Schrecken nicht mehr laufen zu müssen. Aber der Bürgermeister wechselte seinen Platz mit dem Kutscher, nahm selbst die Zügel in die Hand, um mit Vater zu sprechen.
“Herr Rabbiner, alles verdorrt auf den Feldern, eine Hungersnot wird kommen! Was können wir tun?”
“Die Menschen sind sündig!”
“Alle Menschen, Herr Rabbiner?”
“Alle, ohne Ausnahme.”
“Auch ihr Juden?”
“Auch wir Juden, ja, auch wir Juden!”
“Unsere Geistlichen haben um Regen gebetet, aber ihr? Die Juden kennen die Erde nicht, ihr lebt nicht vom Acker und vom Schweiß der Bauern. Was tut ihr?”
“Wir beten auch um Regen, wir Juden fühlen auch das Leid der Erde.”
“Sie sagten soeben, dass Gottes Geist im Tale sei. Wenn Sie ihn fühlen oder sehen können, warum bitten Sie Ihn nicht um Regen? Ihr Juden liebt uns nicht. Das ist der Grund!” Er schlug erregt auf die Pferde los.
Nach einer Stille sagte mein Vater: “Sonnabend wird es regnen. Aber vergessen Sie nicht, wir lästern damit Gott! Es wird ein Regen ohne Segen sein! Wenn Gott strafen will, müssen wir es verstehen lernen!”
“Ein Regen ohne Segen?”
“Ja, ein Regen ohne Segen! Der Mensch soll sich nicht Gottes Strafe entziehen. Der Mensch soll lernen.” Dann sprachen sie nicht mehr miteinander, man hörte nur das Traben der vier Pferde. Bald waren wir in Bakony-Tamasi. Das Dorf lief zusammen, sich die mächtige Schlange zu betrachten. Der Kutscher hatte sie hinten am Wagen angebunden. Ihr Leib bewegte sich noch immer. Ein Grausen überfiel alle. Es war der Abend des Donnerstag.
Der Regen des Unheils
In der Nacht hatte ich nicht geschlafen und sah am Morgen des Freitag die große Kerze auf Vaters Tisch, wie sie sein ernstes Lesen und Denken beleuchtete, glücklich, ihm Licht zu spenden, sich selbst verzehrend. War Mutter nicht auch solch ein Licht für uns alle? Sie war schon aufgestanden und putzte das Haus für den Sabbat.
Na, was war da schon zu putzen? Aber Mutter bereitete uns immer aus Nichts ein Fest: So es Eier und Mehl gab, backte sie die beiden Zopfbrote mit einem leisen Kuchengeschmack, auf den ich die ganze Woche hoffte. Vor Sonnenuntergang saßen wir dann in frischen Kleidern am Tisch, Mutter zündete die beiden Kerzen zum Empfang “der Braut”, des heiligen Sabbat an. Vater sprach den Segen über Brot und Wein und es war, als strahle Mutters Licht im ganzen Hause.
Der Kutscher des Bürgermeisters verbreitete inzwischen: “Der jüdische Gott wird es am Sabbat regnen lassen! Aber ein Regen ohne Segen!”
Die Bauern schauten uns von weitem misstrauisch an. Sonnabend vormittag sprach der Vater in der Synagoge von den Gesetzen in Gottes Schöpfung. Der Mensch solle versuchen, sie zu verstehen, um ihnen folgsam zu sein. Der Mensch solle sich nicht gegen Gottes Gesetze und Willen erheben. Darauf legte Vater seinen großen Gebetsschal über den Kopf und alle beteten.
Wenn Vater betete, war es, als ob er von einer fernen Musik, die nur er hörte, leise, leise gewiegt wurde. Das machte mir immer einen tiefen Eindruck. Niemand wiegte sich so wie Vater. Nach dem Gottesdienst kamen wir in eine unerträgliche Hitze hinaus. Ich dachte an die Bauern und die Tiere auf den Feldern. “Im Schweiße deines Angesichtes”, ich fügte hinzu “und aller deiner Glieder” – das hatte ich beim Wandern erlebt – “sollst du dein Brot verdienen”.
Als unsere kleine Familie am Mittagstisch saß, wurde es plötzlich finster. Schwarze Wolken rasten am Himmel auf Bakony-Tamasi zu, getrieben vom Sturm, der nun das Dorf erreichte. Draußen schrien Mensch und Tier vor Entsetzen. Das Vieh brach aus den Ställen aus. Mütter riefen nach ihren Kindern. Alles, was nicht fest am Boden stand, wirbelte zum schwarzen Himmel. Was dann geschah, werde ich nie vergessen: Es donnerte furchtbar und der Blitz schlug in unser Haus ein. Wie tausend Riesenschlangen zischte es und alles zitterte. Ein Bauer zertrümmerte mit der Faust unsere Fensterscheibe und schrie: “Heraus, heraus. Das ganze Dach steht in Flammen!”
“Nichts wird angerührt!” befahl Vater. “Wir dürfen am Sabbat nur das Leben und die Thora retten!”
Er wickelte die Thora in seinen Talit und befahl mir, das Gleiche zu tun, und wir eilten mit Mutter und den Schwestern hinaus. Inmitten des großen Hofes blieb Vater stehen, wandte sein Gesicht zu den Flammen und betete. Brennendes Stroh flog durch die Luft, es knisterte und zischte, es blitzte und donnerte. Es war wie in der Hölle! Der große Wachhund hatte seine Kette zerrissen und raste auf Vater los, dicht vor ihm aber legte er sich winselnd auf den Bauch. Er kroch heran und leckte Vaters Hände, dann legte er sich zu seinen Füßen nieder. Es war, als wolle er Vater und die Thora schützen.
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