Ich begriff in diesem Moment, daß ich ein fremdes Reich betreten hatte, das Reich des Dionysos, in dem die Kraft der Fruchtbarkeit herrschte. In Europa – der westlichen Zivilisation – hätte man von Düsternis gesprochen; aber diese Düsternis war nicht negativ, es war die Düsternis der Fruchtbarkeit. Die Düsternis der Langeweile. Dort war der Sex zu Hause, hier lagen die regenerativen Kräfte der Erde. Die ganze Natur, alle Lebewesen erneuern sich über diese dunklen Energien. Die dionysischen Energien. 1958 in Chicago hatte ich noch keine Ahnung, wie man das nannte, aber ich wußte, daß ich hier etwas erlebte, was mir noch nie zuvor begegnet war. Es war nichts Europäisches. Es war nicht sauber oder ordentlich. Es war nicht korrekt. Aber es war so voller Leidenschaft und Frohsinn, daß ganz zweifelsfrei feststand: So mußte man sein Leben leben.
An jenem Abend im Pepper’s tanzten und bewegten sich die Menschen auf ihren Stühlen, an der Bar, in den Gängen. Eine Tanzfläche gab es nicht, dazu standen zu viele Tische im Raum. Schließlich spielte Muddy Waters, und der Laden war voll, weit über die zugelassene Gästezahl hinaus. Die Musik übertraf ohnehin alles, was sich nach jüdisch-christlichen Maßstäben schickte. Wir waren ganz nah dran, Dick, Frank und ich. Und wir waren voll dabei. Trinken, rumwackeln, lachen, reden – ganz kehlig und genußvoll. Man merkte, wie die Stimmen der Leute im Laufe des Abends unwillkürlich in eine tiefere Tonart verfielen. Vielleicht war das dem Alkohol zuzuschreiben, aber ich denke, daß es an dem dionysischen Freudentaumel lag, an der Leidenschaft und an dem Zauber, den Muddy ausübte. Muddy Waters zauberte wie ein echter Schamane. Das war es, was an jenem Abend lief. Es war ein schamanisches Ritual, und wenn wir bis zum Schluß, bis vier Uhr früh geblieben wären – wir gingen um zwei, das war das längste, was wir drei weißen Novizen aushalten konnten –, wer weiß, wozu wir dann in der Lage gewesen wären. Vielleicht hätten wir die Kranken heilen können. Oder die Toten auferstehen lassen. Wir hätten kleine Mädchen aus ihren Köpfen sprechen lassen können. Wir mußten nur bereit sein. Und … der Mojo-Zauber mußte richtig wirken! In dieser Nacht tat er das bei jedem. Lieber Gott, sei uns gnädig!
***
Nachdem ich an der St. Rita High School meinen Abschluß gemacht hatte und diese zweitausend Jungen endgültig zurückließ, ging ich an die De Paul Universität. Das College lag in einer sehr guten Gegend von Chicago, und dort wurde Koedukation praktiziert. Ja, endlich. Mädchen! Mit dir in der gleichen Klasse, in den Fluren, am Spind nebenan. Mädchen, mit denen du reden und lachen, von denen du schwärmen und die du ansprechen konntest. Mädchen! Wie süß und faszinierend sie sind. Ich wurde fast wahnsinnig.
Und wegen all dieser Schwärmerei lernte ich im Studium so gut wie gar nichts. In meinen vier Jahren auf der Uni hatte ich, wenn ich heute darüber nachdenke, nur studienfremde Aktivitäten im Kopf – um genau zu sein: Kunst und Mädchen. Ich hatte mich am College Of Commerce für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben, und dieses lag, zusammen mit der Musikschule, der juristischen Fakultät und der höheren Verwaltungsfachschule, im Herzen von Downtown Chicago. Die Kunstakademie war zwei Straßen weiter. Die Orchestra Hall, wo die Chicago Symphony unter der Leitung von Fritz Reiner arbeitete, war ein paar Schritte die Straße hinunter und gleich um die Ecke. Das World Cinema, Forum für den europäischen Film, befand sich direkt nebenan. Bis zum Michigansee waren es drei Straßen in östlicher Richtung. Das Naturgeschichtliche Museum, in dem es eine hervorragende Sammlung von Dinosaurierknochen sowie indianischer, ägyptischer und chinesischer Kunst zu sehen gab, war bequem zu Fuß zu erreichen, ebenso das Shedd Aquarium und das Hayden Planetarium. Die große Bibliothek von Chicago erhob sich auf der anderen Seite der Michigan Avenue, gegenüber dem Kunstinstitut. Überall im Zentrum fand man außerdem Hofbräuhäuser und Bierstuben aus der Zeit der Jahrhundertwende, wo man sich den Gaumen netzen konnte. Hier gab es Roastbeef auf Roggenbrot mit deutschem Senf; die Sandwiches wurden an einer Theke konsumiert, die in ihrem hölzernen Design an mein altes deutsches Klavier erinnerte. Die Downtown säumten obendrein die von Louis Sullivan entworfenen architektonischen Meisterleistungen wie das Marshall-Field-Kaufhaus und das Auditorium Theater, das wie eine Schmuckschatulle aussah. (Keine zehn Jahre später sollten die Doors dort tatsächlich auftreten. Wenn man auf der Bühne stand und auf die Sitzreihen herunterblickte, hatte man das Gefühl, sich in einer Tiffanylampe zu befinden … einer goldenen, mit Kerzen erleuchteten Tiffanylampe. Vielleicht die schönste Halle, in der ich jemals gespielt habe.) Und stets herrschte auf den Straßen reges Treiben von Geschäftsleuten, Sekretärinnen, Einkaufsbummlern, Touristen und Herumtreibern. Was für eine perfekte Mischung! Das College hatte eine schlicht einmalige Lage.
Ich traf mich mit Mädchen und beschäftigte mich mit Kunst. Ich war in der großartigen Picasso-Ausstellung Ende der Fünfziger. Eine Wanderausstellung, die sich Dorothy auch ansah, als sie nach Los Angeles kam. Schicksal, was? Ich sah dort, live und mit eigenen Augen, „Les Demoiselles d’Avignon“! Ich sah „Die drei Musiker“. Zu Hause hatte ich ein kleines Plakat von diesem Bild an der Wand. Für mich war es eine kubistische Interpretation von meinen zwei Brüdern, Rich und Jim, und meinem Rock ’n’ Roll-Trio, komplett mit dem Familienhund, der rechts als Schatten auftauchte. Als ich es im Original vor mir sah, überwältigte es mich geradezu. Die Farben waren so lebendig, die Größe war so enorm, die Beleuchtung so dramatisch, daß ich fast auf die Knie sank. Ein Kniefall und das Bekreuzigen nach Art der Katholiken schien das einzig Angemessene zu sein … angesichts von Gott auf Leinwand. Das war kein Druck. Picasso, der Meister selbst, hatte den Pinsel in die Ölfarben getaucht und dann das Öl auf die Leinwand gebracht. Auf diese Leinwand! Genau diese Leinwand, vor der ich jetzt stand, in Ehrfurcht erstarrt. Er hatte das Bild 1921 kreiert, und nun war es hier. In echt. Ah … die Kunst!
Ich ging ins World Cinema, um mir „ausländische Filme“ anzusehen. Ich sah Truffauts „Sie liebten und sie schlugen ihn“. Von Ingmar Bergman „Wilde Erdbeeren“ und „Das Siebte Siegel“. Marcel Camus’ „Orfeu Negro“ – meinen Lieblingsfilm. „L’Avventura (Die mit der Liebe spielen)“ von Michelangelo Antonioni, ein sehr erwachsener Streifen über Langeweile und Entfremdung. Er weckte Gefühle, die ich damals nicht verstand, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie heute verstehe. Auch sah ich Orson Welles’ „Citizen Kane“. Ein phantastisches Werk. Seit der Aufführung im World Cinema habe ich diesen Film sicher fünfzehn oder zwanzig Mal gesehen. Ob er die Zeit überstanden hat? Ob man ihn sich öfters ansehen kann? Ob ich ihn noch einmal sehen möchte? Aber ganz sicher! Diese Fragen kann man bei einem cinematografischen Kunstwerk nur mit „ja“ beantworten. Wenn man das nicht kann … dann ist es keine Kunst. Akira Kurosawas „Rashomon“ und „Die sieben Samurai“ bekommen ein dickes Ja. Ein wunderbarer Regisseur. „Ran“ drehte er in seinen Siebzigern, vielleicht sein größtes Werk … mit 75 Jahren! Was für eine Willenskraft! Bergman schuf mit Ende sechzig den ebenfalls brillanten Film „Fanny und Alexander“. Man kann nur hoffen, daß wir in diesem Alter auch noch von solch einer Kraft und Leidenschaft für die Kunst erfüllt sein werden.
Die Filme, die ich in diesem kleinen Kino neben der Orchestra Hall sah, waren überwältigend. Vorher hatte ich nicht gewußt, daß man solche Streifen drehen konnte, ja drehen durfte. In den Fünfzigern war ich eigentlich kein Filmfreak. Hollywood-Produkte. Wen interessierte das? Mit James Dean vielleicht. Alles andere war mir egal. Aber das World Cinema öffnete mir die Augen für die Chance von Kunst im Kino.
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