Ich kam von der Schule nach Hause, schaltete das Radio an, und da waren sie auch schon. Meine Helden. Die echten Typen. Die Giganten. Und für Al Benson schien das alles ganz normal.
„Hier ist eine neue Single von Muddy Waters, die wir gerade auf den Tisch bekommen haben. Hören wir doch mal rein, der Titel heißt ‚Hoochie Coochie Man‘.“
Und das spielte er dann. Es war unglaublich. Eine Mundharmonika mit so viel Seele hatte ich noch nie gehört. Einen so druckvollen Groove auch nicht. Der Gesang klang wunderbar gefährlich, und in ihm schwangen die bösesten Gedanken mit, schon allein durch die Essenz dieses Songs und die Art und Weise, wie Muddy Waters diesen Klassiker von Willie Dixon brachte …
I got a black cat bone
I got a mojo, too
I got a John the Conqueror root
I’m gonna mess with you (Lord, have mercy)
I’m gonna make you girls
Lead me by the hand
Then the world will know
That’s a hoochie coochie man.
Und dann stürzte sich die ganze Band in den Akkordwechsel hinein. Little Walter, Otis Spann und die Jungs rockten los. Und mir flog fast das Hirn weg. Mein Kundalini entrollte sich und jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Die Band heulte auf. Muddy erzählte, daß er tatsächlich dieser Hoochie Coochie Man war … und ich war wieder total weg. Was für ein geiles Stück Musik! Heute ist das ein Klassiker … damals war es weiter nichts als die neueste Single von Muddy Waters, erschienen auf Chess Records. Sie kam aus dem absoluten Nichts. Und sie war aufregend. Sie gehörte zu einer Welle von Inspiration, die über die Bluesmen der South Side von Chicago hereinbrach.
Das Radio spuckte eine „Hitsingle“ nach der anderen aus, aber Popsongs waren das nicht. Es waren Bluesklassiker! Brandneu! Frisch aus dem Aufnahmestudio; das Vinyl kam noch fast warm aus dem Preßwerk und direkt in die Radiosender, die es augenblicklich über den Äther schickten, bis es aus dem Lautsprecher in mein überhitztes Hirn gelangte. Dionysos hatte von mir Besitz ergriffen … über die Ohren!
Und so ging es nonstop weiter. „Hier ist die neue Platte von Howlin’ Wolf.“ Dann kam „Smokestack Lightnin’“. Die Nummer ging mir durch und durch, vor allem wegen des repetitiven Riffs. Kein einziger Akkordwechsel! Immer wieder ein und derselbe Akkord. Er hämmerte auf das innere Rhythmuszentrum. Immer wieder. Funky, düster, rauh, böse. Immer wieder. Derselbe Akkord. Dasselbe Riff. Wieder und wieder. Jaaa … ich geriet langsam in einen tranceähnlichen Zustand. Mein Radio hypnotisierte mich. Howlin’ Wolf hatte mich voll unter seiner Kontrolle. Und dann dieser Text …
Smokestack lightning, shining just like gold.
– Howlin’ Wolf
Und dann heulte und jaulte er tatsächlich wie ein verirrter Wolf. Er trauerte um eine gescheiterte Liebe. Einsam und voller Furcht, verletzlich und doch voller Macht. Ein Mann. Ein wahrer Mensch. Was für eine Stimme.
Und was zum Teufel bedeutete dieser Text? Was ist ein Schornstein-Blitz, und warum glänzt er wie Gold? Ich weiß es immer noch nicht. Und ich finde es toll. So verdammt mysteriös. Ein Mann, der wie ein Wolf heult, und dieses Riff, das sich ein ums andere Mal wiederholt. Düstere, unvorhersehbare Wendungen der Blue Notes. Die gleichen Akkorde, die gleichen Töne. Wieder und wieder, sie brannten mir ein hypnotisches Loch in den Verstand. Ein Mantra. Ein Mantra des schwarzen Amerika. Später öffneten mir meine Studien über die Yoga-Mantras die Tür zur indischen Weisheits-Lehre und der inneren Energie der menschlichen Existenzform. Howlin’ Wolf öffnete Dionysos die Tür … mit einem Satz durch meine Ohren war er drin.
„Hier ist ein neuer Song von meinem Freund Bo Diddley“ – so kannte ich Al Bensons Stimme –, „,Who Do You Love?‘“ Und schon ging’s wieder los. Diesmal ritt ich auf dem Bo-Diddley-Beat, jenem Rhythmus der afrikanischen Urvölker, und darüber schickte Bo seine düsteren und gefährlichen Worte:
Tell me, hoodoo you love?
– Bo Diddley
Ist klar, oder? Hoodoo you love. Juju und Voodoo und Gris-gris und Hoodoo geisterten alle nach der Schule durch mein Zimmer – und durch meinen Kopf!
Und dann sprang John Lee Hooker geradewegs aus dem Radio – nach einem Werbespot für „Dixie Peach“-Haarpomade –, und er brachte seinen neuesten Hit „Boogie Chillun“. Danach sang Jimmy Reed „You got me runnin’, you got me hidin’“. Magic Sam … „I’m A King Bee“. All das kam im Radio. Topaktuell. Die Klassiker waren brandneu und schwammen in meinem Hirn herum. Das Radio war eine unglaubliche Inspiration, als ich fünfzehn, sechzehn war, einer von zweitausend Schülern der St. Rita High, für den nichts lief. Noch nie hatte mich eine rangelassen. Ob ich schon mal ein Mädchen geküßt hatte? Wie lernte man Mädchen kennen? Wie sprach man sie an? Aber im Radio glühte es geradezu. Das war reiner Sex, reine Energie, reine Power, reine Leidenschaft. Für mich war es das Größte. Liebe Freunde, das Radio rettete mir das Leben. Es rettete meine Seele.
***
Dann: Elvis Presley war im Fernsehen! Es passierte in einer Ersatzsendung für die „Jackie Gleason Hour“. Jackie Gleason guckten wir immer, das war ein Familienritual. Sid Caesar auch, sowie alle Sendungen mit Laurel und Hardy; „The Twilight Zone“. Mein Vater schaute Boxen, und ich wollte Baseball und Fußball sehen. Das waren die Fernsehgewohnheiten bei Familie Manzarek. Dann lief noch ein bißchen „Playhouse 90“ oder andere der tollen Fernsehserien der Fünfziger.
In der Sommerpause gab es Ersatzprogramm. Meine Eltern guckten aus Gewohnheit die Show von Tommy & Jimmy Dorsey, die als Band für Jackie Gleason auftraten. Und zu den Gästen in jener Woche gehörte kein Geringerer als Elvis Presley. Im amerikanischen Fernsehen! Ich war in einem anderen Zimmer, las oder holte mir einen runter. So eine blöde alte Bigband im Fernsehen interessierte mich überhaupt nicht, ich war ein Blues Boy … und dann rief meine Mutter nach mir. „Raymond! Raymond, komm mal her! Den hier mußt du dir ansehen, das ist ein ganz cooler Typ. Der wird dir gefallen.“ Und ich hörte aus dem Fernseher: „One for the money, two for the show, three to get ready, now go cat go!“ Ich sprang auf, rannte ins Wohnzimmer, sah zum Bildschirm, und da war Elvis und sang „Blue Suede Shoes“. Ein Killer! Ich war hin und weg. Endlich ein Weißer, der das brachte. Den Blues. Ich hatte vorher all den Schwarzen zugehört und so sein wollen wie sie. Ich versuchte, sie zu imitieren, spielte Muddy und Jimmy Reed, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf auf dem Klavier nach, so gut ich konnte – und ich war noch nicht sehr gut –, und dann war da plötzlich ein Weißer, der es im Fernsehen krachen ließ. Er trug einen cremefarbenen Anzug, ein dunkles Hemd und einen cremefarbenen Schlips. Er sah sogar so aus, als ob er tatsächlich blaue Wildlederschuhe anhatte. Scottie Moore spielte die Gitarre, Bill Black zupfte den Baß, und D. J. Fontana traktierte das Schlagzeug. Diese Jungs rockten wie die Teufel. Elvis sang mit dieser tiefen, vollen Stimme und wackelte geradezu dionysisch mit den Hüften. Mir fielen fast die Augen raus. Wow! „Ich hab doch geahnt, daß dir das gefallen wird“, sagte meine Mutter mit wissendem Grinsen, als der Song zu Ende war. „Aber ehrlich!“ Und dann brachte er noch einen. Und der war genauso cool und rockig. Das Coole daran war, daß es etwas Countrymäßiges hatte. Es war nicht der traurige, klagende Chicago-Sound, den ich kannte. Es war ein bißchen lockerer. Es war weiß. Elvis mit Akustikgitarre, Stehbaß, elektrischer Countryblues-Gitarre und Schlagzeug. Es war Rockabilly. Die Seele der Schwarzen war in einen weißen Mann gefahren. Der Provinzler, der Honky, konnte den Neger jetzt verstehen und respektieren. Das Paradies war in Sicht. Und die Schleusen brachen unter der Kraft des Rock ’n’ Roll!
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