Nachdem Elvis im Fernsehen gewesen war, eroberte Rockmusik das Radio. Little Richard spielte „Tutti Frutti“, Jerry Lee Lewis „Good Rockin’ Tonight“. Chuck Berry sang „Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news!“, Fats Domino trumpfte mit „I’m Walking“ auf, Bill Haley mit „Rock Around The Clock“, Gene Vincent sang mit seinen Blue Caps „Be-bop-a-lula, she’s my baby“. Das weiße Amerika hörte solche Sounds zum allererstenmal. Die weißen US-Kids flippten aus und gingen voll in dieser neuen Sache auf. Und die Eltern wußten: „Das ist das Ende. Das ist das Ende der westlichen Zivilisation in ihrer bisherigen Form. Unsere Töchter sind nicht mehr zu bremsen. Sie hören diese wilde, verrückte Musik, in der Sex nicht nur versteckt angedeutet wird.“ Und die Jungen, die schon vorher nur Sex im Kopf gehabt hatten, wußten jetzt um die kreisenden Bewegungen eines Elvis Presley und konnten sie den Töchtern Amerikas vorführen. Wir drehten durch!
Das hatte enormen Einfluß auf mein Klavierspiel. Ich stellte meinen Bluesmen jetzt noch die Rocker zur Seite und sang aus vollem Hals bei allen Hits des Tages mit, während ich mit der Linken den Rhythmus hämmerte und mit der Rechten Glissandi und Triolen spielte. Mittlerweile war ich dem Partykeller und dem klobigen deutschen Ungetüm längst entwachsen und hatte ein besseres, anspruchsvolleres Spinettklavier im Wohnzimmer stehen. Das mußte nun allerlei aushalten. Klavierstunden gewannen bei mir bald einen ganz anderen Sinn. Ich hätte ja Bach spielen sollen – und tat das auch –, aber ich liebte nun mal die Rockmusik. Und verdammt noch mal, meine Eltern liebten sie auch. Solange ich gute Noten nach Hause brachte und meinen klassischen Musikunterricht nicht vernachlässigte, konnte ich alles spielen, was mir in meinen verrückten Teenagergedanken herumspukte. Und mein fieberndes Hirn dachte an nichts anderes als an Rock ’n’ Roll und Blues.
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1958, als ich dann etwas älter war, sah ich Muddy Waters tatsächlich live, wie er im Pepper’s Lounge an der Ecke Vincennes/43. Street spielte. Der Hoochie Coochie Man höchstpersönlich sang an jenem Wochenende für seine Getreuen. Das Pepper’s war ein angesagter Nachtclub mitten in der South Side. Ein blutrotes Neonschild vorn im Fenster mit der Aufschrift PEPPER’S LOUNGE lockte zum Eintreten. Die Stühle und Tische waren aus Holz und kündeten noch von einer anderen Ära – in den Dreißigern war der Laden wohl mal eine Flüsterkneipe gewesen. Der Tresen wurde von unten mit Neonlicht beleuchtet, damit die Bar jenen Film-noir-Touch bekam. An diesem Wochenende, als ich meine heidnische Taufe empfing, war der Club rappelvoll. Vielleicht 350 Zuschauer, darunter drei Weiße, ich und zwei Schulfreunde, Dick Ellman und Frank Mazzoni. Drei weiße Jungs auf der Suche nach der Wahrheit. Und die fanden wir in dieser Neonspelunke.
An jenem Abend spielte Muddy für sein Publikum, für die Arbeiter Chicagos. Für Männer, die wie mein Vater in der Autoindustrie, beim Flugzeugbau oder bei der Landmaschinenproduktion beschäftigt waren. Fabrikarbeiter aus der Stadt der breiten Schultern. Gewerkschaftsleute. Männer mit gutbezahlten Jobs. Männer, die für ordentliches Geld ordentlich arbeiteten. Und jetzt war Wochenende. Sie hatten Geld in der Tasche. Sie waren hier, um den großen Muddy Waters zu sehen.
I’m drinkin’ T.N.T. I’m smokin’ dynamite
I hope some screwball starts a fight.
’Cause I’m ready, ready as anybody can be.
I’m ready for you, I hope you’re ready for me.
– Willie Dixon
Sie hatten sich herausgeputzt. In einem Blues-Club. Die Männer trugen Schlips und Kragen. Die Frauen kamen frisch vom Friseur, hatten Parfüm aufgelegt und sich feingemacht. Jeder war gut angezogen. Schließlich war es etwas Besonderes, wenn man abends ausging. Die Männer der South Side von Chicago gingen mit ihren Ehefrauen oder Freundinnen ins Pepper’s Lounge, um sich einen schönen Abend zu machen, mit ein paar Drinks und einer Show. Aber dieser Showman war ein Schamane reinsten Wassers.
Muddy war an jenem Abend in großer Form. Er brannte. Er war der Bluesman in Vollendung, und ich erlebte eine der überwältigendsten Vorstellungen meines Lebens. Muddy schlug uns alle in seinen Bann, niemand konnte sich entziehen. Er war in seinem Element. Er spielte nicht vor einem weißen Studentenpublikum oder trat beim Newport Folk Festival vor Dilettanten auf, die ihn gar nicht recht zu schätzen wußten. Nein. Dionysos war in seinen Tempel zurückgekehrt, und seine Anhänger bezeugten ihre Ergebenheit. Und er gab es uns!
I want you to rock me
Rock me all night long.
I want you to rock me, baby
Like my back ain’t got no bone.
– Muddy Waters
Die Band wußte genau, worauf es ankam und spielte fordernd und präzise: Schlagzeug, Baß, Gitarre, Klavier und Mundharmonika. Eine typische Bluesband aus Chicago. James Cotton griff zur Mundharmonika – Little Walter weilte zu jener Zeit leider schon nicht mehr unter uns –, und der überragende Otis Spann saß am Klavier. Spann war der Größte. Er und Johnny Johnson, der bei Chuck Berry spielte: Diese beiden zeigten mir, was Blues/Rock-Piano bedeutet. Sie waren die Meister dieser Kunst. Indem ich ihnen zuhörte, fand ich den Weg in das Labyrinth: Der Weg war die Stille. Die Pause. Denn es geht so: Du läßt dem Gitarristen Raum, sich auszudrücken, vielleicht begleitest du ihn ein wenig und spielst eine kleine, einfache Figur, die ihm als Grundlage zum Improvisieren dienen kann. Aber du läßt ihm Spielraum für sein Statement … und dann antwortest du ihm. Genauso läuft es mit dem Sänger. Doch sobald die Zeit für dein eigenes Solo gekommen ist, führst du selbst. Dann liegt die ganze Energie bei dir. Wenn ich ein Solo spiele, bin ich der Herr und Meister. Ich habe es in der Hand, wohin der Song geht und wie er sich entwickelt. Alle müssen sich mir unterordnen. Ich kriege Krämpfe, ich flippe aus … und dann füge ich mich wieder und verschmelze erneut mit der Energie der Band. Mit der kollektiven Energie. Dann bin ich wieder ein Rädchen im Getriebe.
Das Geheimnis liegt im Zuhören. Du mußt den anderen zuhören, ihnen Raum lassen, du mußt das, was sie rüberbringen wollen, mit kleinen Tupfern ergänzen, und dann kannst du ihren Statements mit der eigenen durchdachten und geistreichen Aussage antworten. Und: „Üben, üben, üben!“
Daher war es einfach das Größte, Otis Spann zu sehen. In diesem Club zu sein und Otis und Muddy live zu erleben … mir fehlen schlicht die Worte. Sie hatten eine Ebene erreicht, für die es keine Worte gibt. Die Ebene, auf der Energien und Vibrations fließen. Wo die Elementargeister zu Hause sind. Die innersten Kräfte. Und sie nahmen uns alle mit. Als der Abend fortschritt und der Blues immer stärker seine Zauberkraft entfaltete, begannen die Herren mit Schlips und Kragen und die frisch frisierten und mit Schmuck behängten Damen zunehmend lockerer zu werden. Der oberste Knopf wurde aufgemacht, der Schlips ein wenig heruntergezogen, so daß die arbeitende Halsmuskulatur, die solche Fesseln nicht gewöhnt war, Platz bekam. Das Haar der Ladies begann sich aus der sauber auftoupierten Frisur zu lösen. Eine Locke machte sich frei und rutschte ein wenig in die Stirn. Die war mittlerweile feucht und glänzte verschwitzt. Ein Tropfen Schweiß fiel von der Nase eines der Gentlemen herunter. Die Hitze steigerte sich ständig … und die nächste Runde Drinks wurde serviert. Die Stimmung stieg. Die Atmosphäre wurde dunkler und intensiver. Die Hemmschwelle sank, Konventionen gerieten in Vergessenheit. Und dann begann das Publikum, mit Muddy auf der Bühne zu sprechen. „Los, Muddy! Mach schon, Mann! All right, all night!“ Auf solche Zwischenrufe reagierte er mit kleinen Gesten, mit einem kurzen Hüftwackeln, oder er fuhr sich blitzschnell mit der Hand über den Schritt, bis dann, später am Abend, das beste Stück von Mr. Morganfield auch mal kurz und kräftig angepackt wurde. Ein paar Frauen quiekten dann richtig. Ein kleiner Schrei des Entzückens, der Vorfreude. Ich drehte mich um, und die Ladies kicherten, während ihre Männer die Augen halb geschlossen hielten und sich in den Hüften wiegten. Das Pepper’s Lounge war wie elektrisiert. Mann, was für ein Abend! Die Leidenschaft und die unbändige Kraft, die hier entfesselt wurden, überwältigten den weißen Boy.
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