Er wirkte auf mich wie ein junger Mann, der – im Gegensatz zu seinen Freunden, die ihr Verlangen und ihre Wünsche so schnell wie möglich befriedigen wollten – die Freude kannte, sich auf den Verlauf der Natur einzulassen.
„War da sonst noch irgendwas?“, fragte ich ihn. Walter hielt etwas zurück.
Entweder hatte ich das Falsche gefragt oder direkt einen Nerv getroffen. Walter schüttelte den Kopf und nahm seinen Mantel und die Tasche. Ein Lichtstrahl erhellte sein Gesicht, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ihn diese neue Verletzlichkeit noch unwiderstehlicher bei den Frauen machte, die er in seine Nähe ließ. Meine Tochter Rain hat ihn immer geliebt. Aus der Verknalltheit der Kindheit erwuchs eine unausgesprochene Leidenschaft. Siobhan muss die Rivalität wohl gespürt haben, denn als ihre Chefin bei der BBC schien sie Rain ständig in entfernt gelegene Hotspots zu entsenden.
Walter nahm mich in die Arme und lächelte zum Abschied.
Im Winter des Jahres 1995 besuchte mich Rain in meinem Apartment – ich dachte zuerst zum Nachmittagstee. Sie benutzte den Wohnungsschlüssel, den ich ihr gegeben hatte, kam rein, warf den Journalistenkoffer auf den Boden, knallte die Tür zu und schmiss ihren Mantel auf den Boden des Flurs. Sie stapfte in das Wohnzimmer und ließ sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck auf das Sofa fallen. Ohne Vorwarnung teilte sie mir mit, dass Walter nun verheiratet sei.
„Ich kam nach London zurück, ging ins Büro, sah den Ring an Siobhans Finger und fragte eine Freundin, wer denn der Glückliche sei. Sie klärte mich auf: ‚Siobhan hat ihren Freund geheiratet. Deinen Freund Walter.‘“
Rain war mit einem BBC-Team in Afghanistan gewesen, das mehrmals im Laufe von zwei Jahren mit einer von den USA unterstützten Mudschahedin-Patrouille das Gebiet bereiste. Sie sollten das zu erwartende Ende der Feindseligkeiten in der Region dokumentieren.
Ich wusste natürlich, dass Walter am 25. Juni 1994 geheiratet hatte und war bei den Feierlichkeiten gewesen.
„Warum hast du mich das nicht wissen lassen, Dad?“ Rain hatte Tränen in den Augen. „Ich hätte da sein sollen, bei Walters Hochzeit. Er war wie ein Bruder für mich.“
Ich wusste, was sie eigentlich ausdrücken wollte – dass Walter ihre große Liebe war, dass sie seine Frau hätte werden sollen. Ihr war klar, dass es niemals möglich gewesen wäre, sie während des Einsatzes mit den Mudschahedin zu kontaktieren. Bei der Hochzeit war ich total breit gewesen und erinnerte mich danach an kaum etwas. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich wie ein Halbtoter und versuchte, alles schnell zu vergessen.
Als Rain so niedergeschlagen dasaß – sie hatte allen Grund, tieftraurig zu sein –, beendete ich die Kontrolle der Buchführung. Ich betrachtete meinen Nachwuchs zum ersten Mal intensiv und eingehend. In diesem Moment der Verzweiflung wirkte sie unglaublich schön. Ihre kurzgeschnittenen Haare schimmerten rötlichblond. Auf ihrer blassen und sonnenempfindlichen Haut zeichneten sich winzige Sommersprossen ab. Sie hatte wenig von dem wunderschönen Teint meiner Mutter Claire, aber die kräftige Knochenstruktur ihrer Oma mütterlicherseits geerbt. Rain war weder ein Ebenbild ihrer Mutter noch von mir – gut für sie, da ich keinem Ölgemälde zur Ehre gereiche. Rains Mutter – meine lang verlorene Frau Pamela – sah jedoch recht gut aus und hatte rötlichblonde Haare. Ich benutze rötlichbraun nicht abwertend. Ich konnte mich daran nie sattsehen. Sie einen Rotschopf zu nennen, wäre absurd gewesen. Sie hatte diese besondere Haarfarbe, was in ihren Jugendjahren noch umwerfender wirkte. Das optische Erscheinungsbild stand auf einer Ebene mit ihrer Persönlichkeit, denn Pamela war überaus lebendig, unvorhersehbar und kapriziös. Scharf!
So empfand ich es als einen Schock, dass sie sich nach der Geburt von Rain plötzlich für ein zölibatäres Leben entschied. Oh ja, und sie wollte sogar zum Katholizismus konvertieren. Bis zu dem Zeitpunkt war sie, um es so höflich wie möglich auszudrücken, fast eine Nymphomanin gewesen, eine legendäre „Rothaarige“ – heiß! Als junger Ehegatte hatte ich mich vor Rains Geburt manchmal gefühlt, als wäre ich im Paradies gelandet. Kein Mann hätte in sexueller Hinsicht mehr von seiner Frau erwarten können.
Sie müssen wissen, dass mich Frauen attraktiv fanden. Auf einige trifft das immer noch zu. Allerdings sehe ich auf bestimmte Art befremdlich aus, ein Mix aus Stereotypen der arischen und jüdischen Rasse. Doch für mich lief es bisher ganz gut. Ich bin mittelgroß, habe braune Augen und pechschwarzes Haar, das ich meist lang trage. Obwohl es oben schon dünner wird, habe ich noch genügend Haare, um ein wenig jünger auszusehen, als ich tatsächlich bin. Nicht schlecht, obwohl ich mich nie um meinen Körper oder mein Gesicht kümmerte. Einzig und allein mein Bart stößt manchmal einige Frauen ab. Er ist nicht lang, obwohl ich ihn nur selten stutze. Ich ziehe es aber vor, ihn zu tragen, denn meiner Meinung nach ist mein Kinn wenig ausgeprägt. Schaue ich in den Spiegel, schreie ich nur selten Du heißer Teufel, geh und nimm sie dir, wonach ich mir das Rasierwasser auf die Backen klatsche. Manchmal kam das aber schon vor! Mein Gesicht scheint in der Stirnpartie breiter zu sein, als es eigentlich sollte, doch das liegt eventuell nur an dem schmalen Kinn. Nun habe ich ein merkwürdiges Bild von mir gemalt, denn Pamela bezeichnete mich oft als süß oder zauberhaft. Wenn wir uns liebten und unsere Gesichter im Halbdunkel einander ganz nahe waren, nannte ich sie wunderschön – denn so wirkte sie auf mich. Sie hingegen beschrieb mich als gutaussehend. Schätze mal, sie sagte die Wahrheit. Wir waren aber niemals eine Familie, die ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hoch bewertete, und Rain sah sich sicherlich nicht als die hübsche Frau, zu der sie sich entfaltet hatte. Die Männer lagen ihr zu Füßen, doch Walter behandelte sie immer wie eine Schwester.
Als sich Rain plötzlich aufrichtete – aufschäumend, Schönheit, die wie eine Aura um sie herum erleuchtete und eine deutlich unterdrückte sexuelle Energie ausstrahlte –, erkannte ich ihre Mutter in ihr.
„Komm schon, Rain“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Mein Patenkind hat einen Fan geheiratet, das war sie nun mal.“ Ich versuchte zu lachen, doch ließ die gespielte Heiterkeit schleunigst abebben.
Das irritierte, ärgerte und verunsicherte sie nur noch stärker. „Siobhan ist super-schlau, Dad. Wenn sie ein Fan war, hat sie das vor mir verschwiegen. Sie müssen sich aus einer Laune heraus zur Hochzeit entschlossen haben. Wie konntest du nur zu den Feierlichkeiten gehen, ohne es mich wissen zu lassen?“ Sie explodierte förmlich, sprang auf und schlug sich mit den Handballen so stark auf die Schenkel, dass sie sich vermutlich verletzte.
Momentan wollte ich mir die Tatsache nicht vor Augen führen, dass ich mich kaum an die Party erinnern konnte. Ich hatte Siobhans jüngerer Schwester Selena Drogen zugesteckt, die dort mit ihrer hübschen Freundin Floss abhing, aber sogar daran erinnere ich mich nur schwammig.
„Siobhan ist doch älter als ich, Dad! Und Walter hat nun meinen verdammten Boss geheiratet!“ Sie begann auf und ab zu laufen, hielt inne, wirbelte herum und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Jesus! Ich schätze mal, Siobhan verfrachtete mich für geschlagene zwei Jahre nach Afghanistan, um diese miese Aktion durchzuziehen.“
Dann ließ sich Rain wieder aufs Sofa fallen und brach in Tränen aus.
Natürlich hatte ich einen Einfluss aufs Walters Leben und seine Karriere. Rain wusste das nur zu gut. Ich fungierte als Walters wichtigster Mentor, glich einem Leitstern. Er hörte auf mich, vielleicht, weil er mich in meinen schlimmsten Tagen erlebt hatte – und danach auch die Genesung. Ich hätte ihn vielleicht aufklären können, darauf hinweisen, dass meine Tochter ihn liebte – hätte ich das nur selbst bemerkt!
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