1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Ich wünschte mir in dem Augenblick, ich hätte ihnen von den Nymphen und Grimassen berichten können.
„Wenn wir Schmerz empfinden, spüren wir unsere Menschlichkeit, spüren, dass wir leben. Für mich ist der physische Schmerz nicht immer ein Gefühl, das betäubt werden sollte, doch ich muss das, was in meinem Kopf herumschwirrt, abschwächen. Ich muss fähig sein, es klar zu sehen und zu hören, eine Distanz aufzubauen, um es auszudrücken.“
Die Kids wollten wissen, was ich denn genau hören und sehen könne. Ich wollte ihnen keine Angst einjagen, aber erklären, warum ich so war, wie ich eben war.
„Ihr seid alt genug, um etwas über Drogen zu wissen. Ich schätze mal, die älteren Kids in der Schule experimentieren schon damit. Doch die biochemischen Vorgänge im Körper und im Gehirn sind weitaus stärker. Wenn ich kurz innehalte und etwas intensiv betrachte – wie die Flammen und den Rauch im Feuer da –, kann mein Bewusstsein einen anderen Weg einschlagen. Wie jetzt, wo ich nackte tanzende Frauen sehe. Nichts Obszönes, eher wie ein Ballett. Doch nun verwandeln sie sich in sich windende goldene Schlangen. Und jetzt erscheint mir der Rauch wie ein schwerer Stoff, und die Glut verbirgt ein glühendes Tier unter sich. Etwas wie einen Wal, einen brennenden Wal.“
„Ein Künstler ist in der Lage, solche Images aufzunehmen und sie in etwas Greifbares zu verwandeln. Wenn einer meiner Klienten, ein Maler oder Bildhauer, den ich vertrete, mir seine Arbeit präsentiert, weiß er, dass ich es schätze, dass keine eindeutige Logik dahintersteckt. Sie versuchen einfach nur, etwas anzuzapfen, was die normalen Leute als Wahnsinn bezeichnen.“
Harry und Sally Watts gehörten zum selben Personenkreis wie Pam und ich. Wie waren bohemienhafte Typen, die die Exzentrik und Ausschweifungen der jeweils anderen tolerierten. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, wenn einer von uns dem anderen sagte: Dein Arbeitsethos macht dich zu dem, der du bist oder Wärst du nicht ein Junkie gewesen, könntest du die Künstler nicht wertschätzen, mit denen du arbeitest. Wir gaben uns alle liberal, und ich glaube, dass Harry und Sally meine Abhängigkeit als eine Art Ehrenmedaille sahen. Wir verdienten unser Geld, genug, um ein ordentliches und angenehmes Leben zu führen. Harry und Sally wohnten mit Walter an einer schönen Straße, die an der ruhigen Seite von Ealing Common entlangführte. Ihr geräumiges edwardianisches Haus war ungewöhnlicherweise niemals in einzelne Räume unterteilt worden. Sie erfreuten sich eines schmucken und ausgedehnten Gartens sowie dreier Gästezimmer auf der zweiten Etage, die vor meiner Ankunft mit Rain kaum genutzt worden waren. Man gab uns damals nie das Gefühl, als wären wir im Weg. Ich bin kein schlechter Koch und konnte mich im Haushalt nützlich machen, einkaufen und oft das Abendessen zubereiten. Harry arbeitete oft an den Abenden, gab Konzerte und war manchmal tagelang abwesend. Sally schien meine Gesellschaft ehrlich zu genießen und nicht nur zu tolerieren. Sie war eine erfolgreiche Malerin moderner Reitszenen und besuchte oft Pferderennen und populäre Veranstaltungen wie das Grand National. Dank der Tatsache, dass ich mit Kunst handelte, hatten wir eine gemeinsame Ebene.
Harry und Sally stellten ihre Pferde auf einem großen Gestüt in Harefield unter, einem Dorf im grünen Gürtel von Middlesex, ungefähr 35 Autominuten von Ealing entfernt. Harefields schlichte Hauptstraße schmückten einige Antiquitätenhändler und eine Post, und das Dorf war von einem recht flachen Waldgebiet sowie Feldern umgeben, perfekt für Ausritte und Springübungen. Rain wurde schnell eine begeisterte Reiterin, trotz Walters Zögern, sich daran zu beteiligen. Harry und Sally ließen sich hingegen als Experten beschreiben. Obwohl sie nicht an Wettkämpfen teilnahmen, besuchten sie mit Begeisterung alle Gymkhanas, also die Geschicklichkeitswettbewerbe und Veranstaltungen mit Dressurreiten in der Gegend. Ohne die Leidenschaft für Pferde und das Reiten, dieses Feuer und die intensive Erschöpfung, die seine Mutter nach einem Galopp verspürte, hätte Walter niemals das Licht der Welt erblickt. Sally verriet mir, dass sie und Harry sich nur nach einem Galopp lieben könnten.
In dieser Welt der gehobenen Mittelschicht, die sich zwischen der Stadt und dem Land bewegte, der Kunst, Musik und den üppigen Weiden, bereiteten Harry und Sally mir und Rain ein verhältnismäßig glückliches Leben. Ein Unterschied im Erziehungsstil machte sich allerdings während unserer Zeit im Haushalt der Watts unangenehm bemerkbar. Was die Beschäftigungen anbelangte, ließen sich Walter und ich von unserer Intuition lenken, während Harry, Sally und Rain glaubten, dass nur langes und intensives Üben zum Erfolg führte.
Mir war klar, dass Sally ohne ihre konservative Ausbildung in den schönen Künsten niemals so eine exzellente Zeichnerin geworden wäre. Bevor sie ihr erstes Bild im Alter von 31 Jahren profitabel verkaufte, hatte sie eine wahre Massenproduktion von 500 Gemälden und Zeichnungen angehäuft. Ihr Stil verfeinerte und perfektionierte sich mit der Zeit und wurde immer besser. Sally hörte niemals auf zu üben: Sie fertigte regelmäßig Skizzen an, nahm Stunden bei anderen Malern, holte Ratschläge ein und analysierte die Arbeiten der großen Meister der Pferdemalerei, die ihr vorangegangen oder zeitgenössische Konkurrenten waren.
Was Harry anbelangte – er übte fast ununterbrochen auf seiner großen Heimorgel. Es war ein altes Modell mit drei Tastaturen. Oft übte er mit Kopfhörern bis spät in die Nacht. Man hatte den Eindruck, als würde er mit dem Instrument verschmelzen. Legte man ihm Stücke für Orgel vor die Nase, konnte er sie beinahe alle spielen. Sein Notenlesen geschah unbewusst und war perfekt. Seine Auftritte wurden regelmäßig mit höchstem Lob bedacht, denn er verfügte über die Fähigkeit, die allseits bekannten Orgelstücke mit Gefühl zu neuem Leben zu erwecken.
Rain, die so oft ritt, wie sie nur konnte, und das Springreiten wie ein Champion absolvierte, wollte Schriftstellerin werden. Sie las ständig, schrieb aber auch selbst Storys und Gedichte. Schon bald verfasste sie beinahe fünfzig Prozent des vom Harefield-Equestrian-Zentrum monatlich publizierten Reitermagazins.
Ich schwamm natürlich gegen den Strom. Die von mir bevorzugten Bilder stammten meist von Laien. Meine Lieblingssongs kamen von den Abtrünnigen der ernsthaften Musik. Und so machte ich Walter mit viel wildem Jazz und primitivem Folk bekannt wie auch mit den unkonventionellen modernen Orchester-Komponisten. Er schien meinem Vorbild zu folgen: Ohne regulären Unterricht lernte er Mundharmonika, Klavier und Gitarre. Er übte seinem Instinkt folgend, spielte, was er hören wollte, oder versuchte, das zu spielen, was ihm am meisten Spaß machte. In musikalischer Hinsicht konnte Harry Walter nicht unterstützen, denn seine Welt war zu konservativ und traditionell. Sally hingegen machte ihm Komplimente, wenn sie etwas von Walter hörte, was ihr gefiel, doch auch sie war einst dem akademischen Pfad gefolgt und wünschte sich, dass Walter mit einem ausgebildeten Musiklehrer arbeitete, statt mit mir abzuhängen und sich meine alten Vinylscheiben reinzuziehen, von Fats Waller, Louis Armstrong, Sun Ra, John Fahey, Bert Jansch, Davey Graham, Archie Shepp und Stockhausen.
Wir zeigten uns alle angenehm überrascht, als Walter sich plötzlich für den vernachlässigten Garten des Hauses in Ealing interessierte. Er begann, darin zu arbeiten, beinahe intuitiv, aber auch geschickt, und kreierte so etwas wie den Anschein von Ordnung und stilvoller Würde. Zwangsläufig zogen ihn die Vorträge und Führungen in den nahe gelegenen Kew Gardens an, und nach seinem GCSE-Abschluss, einer Art mittleren Reife, schrieb er sich als Student bei der Royal Agricultural University nahe Cirencester ein. Harrys Schwester und zugleich Walters Lieblingstante Harriet lebte im nicht weit entfernten Tetbury, wodurch sich der Ort als perfekt erwies. Walter studierte zwei Jahre und bestand die Abschlussprüfung mit Auszeichnung.
Читать дальше