„Nein.“ Ich versuchte, ihn aufzubauen, denn er steigerte sich in seine Nervosität hinein. „Das klingt nicht verrückt, und es ist offenbar sehr ernst für dich.“
Er gab keine Antwort.
„Walter?“ Ich sprach ihn ganz vorsichtig an. Seit seinen frühsten Jahren hatte ich mein Patenkind nicht so verletzlich erlebt. Er saß da, die Hände in den Schoß gelegt, wie ein kleiner Junge vor dem Büro des Schulleiters, der eine Bestrafung erwartet. Walter starrte in die Luft, an die Decke, dann nach links und rechts.
„Ich kann es jetzt hören, Onkel Louis“, sagte er mit einer Stimme, die dem Schluchzen nahe war. „Es kommt mir wie ein Angriff auf die Psyche vor. Ich würde es gefühlsmäßig eine Sound-Attacke nennen. Wenn ich darüber rede oder davon spreche, kommt das alles zurück, und ich höre es wieder und wieder. Ich glaube, es stammt von den Fans, die ganz vorn stehen.“
„Mit wem hast du sonst noch darüber gesprochen?“ Walter war mit einem wunderschönen irischen Mädchen verheiratet. Sie war ein oder zwei Jahre älter und hieß Siobhan Collins. „Was ist mit Siobhan?“
„Ich habe mit ihr darüber geredet.“
„Und was sagt sie?“
„Um ehrlich zu sein, ist sie nicht besonders scharf auf all das, was mit der Band zusammenhängt. Die ganzen schönen Mädchen in der ersten Reihe. Es ist schwierig für sie – alles, was sich um die Band dreht. Sie denkt, ich sollte eher richtig arbeiten, mich selbst ernster nehmen.“
„Du meinst, sie will, dass du aussteigst?“ Wenn ich in dem Augenblick erstaunt klang, dann nur, weil ich mich fragte, wie Siobhan auf solche Gedanken kam – obwohl ich einige ihrer Bedenken teilte. Walters Manager Frank Lovelace trieb seine Leute besonders hart an, und er hatte einen großen Stall von Künstlern. Er richtete sein Augenmerk ständig auf den ganz großen Deal, versessen und gierig danach, sich eine Beteiligung zu sichern. Walter stellte die Schlüsselfigur für den Erfolg der Band dar, und was ihn anbelangte, dominierte Frank Lovelace mit seiner durch und durch kontrollierenden Persönlichkeit.
„Ich weiß es nicht. Sie hat nie viel dazu gesagt. Aber sie ist ja auch Irin!“ Er lachte wieder, und dieses musikalische Lachen erweckte ihn einen Moment lang erneut zum Leben. „Sie will, dass ich der neue Seamus Heaney werde oder so was in der Art.“ Er schüttelte den Kopf.
Siobhan arbeitete in der zentralen Nachrichtenredaktion der BBC in London. Sie leitete eine Gruppe von Auslandskorrespondenten, und zu ihrem Team gehörte auch meine Tochter Rain.
„Hast du vielleicht mit Rain darüber gesprochen?“ Das war eine dämliche Frage. Rain hielt sich schon seit einigen Monaten in Afghanistan auf.
„Nicht über das hier. Hör mal, Onkel Louis, so was ist mir noch nie passiert. Ich habe das Gefühl, dass ich mich in Gedanken einklinke, die vom Publikum kommen.“
„Aber da liegt doch genau deine Stärke, Walter.“ Ich hatte recht, denn Walter schien sein Publikum oft vollkommen in der Hand zu haben.
„Nein, das hier fühlt sich negativ an, als würde ich seine Ängste hören, sie noch verstärken.“
„Sich auf das Publikum einzupendeln, ihm voraus zu sein – das machst du. Und zwar besonders gut. Das genau tun alle guten Künstler. Siobhan ist doch sicherlich stolz auf dich?“
„Das ist sie, aber sie quält nicht nur der Gedanke, dass mir die Gruppe so nahe steht. Sie meint, Clubs wie das Dingwalls gäben vor, besser als ihr Ruf zu sein.“
„Sie inszenierten sich also als irischer Pub, mit Geigen, Dudelsäcken und Murphys frisch aus der Brauerei?“
Walter lachte. „Damals in Waterford bin ich mit ihr in einigen dieser Läden gewesen. Da war es richtig wild.“
„Und zweifellos brechend voll mit heißen Miezen“, ergänzte ich.
Einen Augenblick lang schien Walter wieder ganz der Alte zu sein. Er war immer selbstsicher und fest entschlossen, doch ich sah, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Wir unterhielten uns noch eine halbe Stunde. Ich dachte, dass Zuhören, ganz einfaches Zuhören, vermutlich besser für ihn wäre als ein verzweifelter Versuch, nach Konzepten zu suchen oder um eine Lösung zu kämpfen.
Er berichtete mir davon, dass er beim Musikmachen gleichzeitig hören müsse. Er behauptete sogar, dass sich gute Musiker in die einteilen ließen, die zuhören konnten, und diejenigen, die einfach nur spielten. Großartige Künstler seien zu beidem in der Lage: spielen und zuhören. Walter strebte nach dieser Größe und hörte jetzt diese befremdlichen Klänge, zugleich unerwartet und unerwünscht. Nun hatte er Angst vor dem Hören, fürchtete sich davor, dass er nicht mehr als Musiker und nicht mehr mit anderen zusammenarbeiten könnte.
Die Sirene eines Polizeiautos riss mich aus den Gedanken. Mir wurde klar, dass Walter eine offensichtliche Frage vermieden hatte.
„Also, hast du mit Harry gesprochen?“ Walters Vater, mein alter Freund. Harry war ein guter Vater gewesen, wenn auch nicht oft anwesend. Ich möchte ihn als erfolgreichen Musiker beschreiben, der viel tourte und ein Leben in einer abgehobenen Welt führte. Klassische Orgel – Messiaen und Bach. Harrys Frau, also Walters Mutter Sally, war eine meiner engsten Vertrauten und erzählte mir häufig von ihren Beziehungsschwierigkeiten.
„Ich will meinem Dad keine Sorgen bereiten“, erklärte Walter leise. „Zumindest jetzt noch nicht.“
„Du willst also noch mit ihm reden?“
Wenn etwas in der Luft lag, das er nicht erklären oder offenbaren wollte, schwieg Walter ganz einfach. Ab und an erkannte man ein Anzeichen, dass er darüber nachdachte, etwas auszusprechen oder auch nicht: Er rieb sich an einer Seite der Nase, und man sah seine leicht verschmitzte Miene. Manchmal führte das dazu, dass er redete, aber manchmal war das auch nur der Auftakt zu seinem Schweigen.
Bei dieser Gelegenheit sagte er schließlich etwas, doch ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ihm widerstrebte. „Ich glaube, ich sollte wohl zuerst zu einem Arzt gehen.“ Walter erklärte, dass sich sein Vater bei einem solchen Gespräch zuallererst nach einem Arztbesuch erkundigen werde.
„Bring doch deine Erfahrungen einfach zu Papier“, schlug ich vor. „Wenn du zu einem Arzt gehst, wird das sicherlich hilfreich sein.“
„Was, sie beschreiben? Oder soll ich sie ‚ausnotieren‘?“
Walters technische Fähigkeiten als Musiker erreichten nicht das Niveau seines Vaters. Er konnte weder Noten lesen noch transkribieren.
„Du weißt doch, dass ich mit Outsider Art handle, Walter.“ Ich lachte. „Falls du alles aufschreibst und damit andere dazu bringst, ein Gespür für diese Klänge zu bekommen, kannst du dich vielleicht zu den fabelhaften Künstlern auf meiner Liste gesellen. Als Poet!“ Ich lachte erneut, zwanghaft, und versuchte ihn dadurch in die Gegenwart zu holen, um den Druck seiner beklemmenden Gefühle zu lindern.
Er lehnte sich zurück und schaute weg.
„Ich kann das Gehörte beschreiben“, meinte er und schaute mich mit trauriger Miene an. „Ich fände es aber extrem schwierig, das in Musik für ein Publikum umzuwandeln.“
Ich kannte Walter seit seiner Kindheit. Aber ich wusste auch, wie er von anderen wahrgenommen wurde, von den Bandkollegen, den Fans und dem Manager. Sie sahen ihn als jemanden, der attraktiv war, hart und cool. Er wirkte wie ein Mann, der sich in einem Kampf gut schlagen konnte, doch nur die wenigsten wussten etwas über seine Tiefgründigkeit.
Ich hatte erste Anzeichen davon schon in seiner Kindheit bemerkt. Er studierte später Gartenbau, und sein Traum war es laut eigener Aussage, eines Tages einen Irrgarten zu kreieren. Er verriet Rain, dass es ungefähr 25 Jahre brauche, bis das Gebüsch dicht genug sei, um sich darin zu verlieren – in einigen Fällen sogar noch länger. Mit genügend Zeit und Pflege werde aus jedem Labyrinth ein wahrer Irrgarten.
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