„Ich habe auch Visionen erlebt“, meinte ich unerwartet und wollte sie damit in die Gegenwart zurückholen. „Meine Visionen kamen von den Drogen, und ich habe bizarre und phantastische Bilder gesehen.“ Ich wollte ihr von den schreienden Grimassen berichten, die am Kopfende des alten Betts auftauchten, damals, als ich noch mit Pamela verheiratet war. Doch das war eine lange Geschichte. Ich holte tief Luft und setzte zum Reden an. Als hätte ich mich durch das Geständnis, das besondere Mitgefühl, dieses Augenblicks würdig erweisen wollen, rollte Maud die wasserdichte Bodenplane eines Zeltes aus. Ich starrte auf das erste Beispiel der phänomenalen Zeichnungen ihres Mannes und war total verblüfft.
Gierig durchsuchte ich die anderen Blätter: Hier lagen wenigstens zwanzig, und Maud meinte, es gebe Dutzende mehr. Jedes einzelne porträtierte mit atemberaubender Genauigkeit eine Momentaufnahme von Old Niks Vision des engelhaften „Final Harvest“.
„Die Arbeiten sind grandios“, stammelte ich aufgeregt. „Das ist beeindruckendes Material. Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, wenn er das hier Dargestellte tatsächlich sehen kann!“
Sie berichtete, dass Old Nik einige Jahre in der rauen Natur mit den Zeichnungen verbracht habe, dass sie zusammengerollt in der Höhle lagerten, in der er immer Schutz suchte. „Für mich war das eine totale Überraschung“, fuhr sie fort. „Paul war schon immer ein talentierter Künstler gewesen. Wie so viele Rockstars seiner Generation kam er von der Kunsthochschule, doch er hatte in der Vergangenheit nie mehr gezeichnet als einige wenige simple Porträts für Glückwunschkarten an die Familie.“
Ich war erleichtert, dass keins der Blätter eine Signatur zeigte, da ich instinktiv spürte, dass Nikolai Andréevich ein weitaus besserer Name für einen Künstler der Outsider Art war als Paul Jackson. Nikolai Andréevich, kalkulierte ich still. Geboren während der Verfilmung seines Aufstiegs und Niedergangs. Jeder in der Welt der Outsider Art sollte sich darüber freuen, im Laufe seiner Entwicklung wahnsinnig geworden zu sein.
Das Folgende zu sagen ist ein Klischee – und es ist mir peinlich, dass mir so ein unverfrorener Gedanke durch den Kopf ging, während ich die exquisiten Bleistift- und Kreidezeichnungen prüfend anschaute –, doch ich hörte mich die Worte flüstern.
„Maud“, hauchte ich mit kaum wahrnehmbarer Stimme und vor Erregung leicht zitternd. „Sie und ich werden wahrscheinlich eine Menge Geld machen!“
Zum ersten Mal, seit sie mein Apartment betreten hatte, sah Maud glücklich aus, ein Glück, das ich kannte. Wieder spürte ich mein flatterndes Herz.
Kapitel 2
Als mich Maud 1996 besuchte, hatte Walter sich bereits etabliert und genoss eine erfolgreiche Karriere. Man kannte die nach ihm benannte Pub-Rock-Band als Big Walter and His Stand, später verkürzt zu Stand. Er nannte sich Big Walter, als Hommage an Little Walter, seinen Mundharmonika spielenden R&B-Helden aus Memphis, Tennessee. Der Bandname „Stand“ war eine Referenz an sein Bühnengebaren. An bestimmten Punkten der Performance stellte er sich wie eine Statue hin, die spielbereite Harp in seiner rechten Hand, so gehalten, als wolle er seine Augen vor dem Licht abschirmen. Seine linke Hand war seitlich ausgestreckt, als würde er auf einem imaginären Surfbrett stehen, die Knie minimal durchgedrückt, ein bisschen nach rechts gewandt, den Körper im Hüftbereich leicht verdreht. Wenn er diese Pose einnahm, wusste das Publikum, dass sie bald ein kraftvolles, explosives Mundharmonika-Solo hören würden. Die Mädchen begannen zu kreischen und die Jungs zu schreien.
Nach einer dieser spektakulären Nächte im Jahr 1995 tauchte Walter in meiner Wohnung auf. Ich öffnete die Tür und erinnerte mich direkt an sein gutes Aussehen und die leicht erhöhten Wangenknochen. Trotzdem entsprach er nicht in allen Punkten dem Ideal. Seinen Augen waren ziemlich klein. Man konnte keine exakte Farbe ausmachen. Sie sahen für einen Mann von nur 28 Jahren alt und verbraucht aus, ähnelten jemandem, der jahrelang auf dem Deck eines Fischerbootes gearbeitet oder von einem Pferd aus mit dem Lasso Rinder eingefangen hatte. Walter trug sein schwarzes und voluminöses Haar lang.
Er machte einen ängstlichen Eindruck, aber sagte zuerst nichts.
Zu dieser späten Uhrzeit war ich schon bereit fürs Bett, doch er wusste, dass ich meine Rolle als Pate ernst nahm und meine Tür für ihn offen stand. Ich war schon immer sein Mentor gewesen und stellte mir schon seit langem die Frage, ob Walter glaubte, dass ich ihn auf eine andere Art verstünde als seine Eltern. Harry und Sally reagierten verwirrt, da Walter wieder die Harp in die Hände nahm, nachdem er seinen Abschluss in Gartenbau gemacht hatte. Erwarteten die beiden tatsächlich, dass aus ihm ein Gentleman-Landschaftsgärtner würde?
„Onkel Louis“, begann er das Gespräch. (Er nannte mich schon immer „Onkel Louis“.) „Ich brauche irgendwie Hilfe.“
„Okay“, antwortete ich, mich sorgend, dass er auf Drogen gekommen war oder Ärger mit seinen Fans hatte. „Was ist denn los?“
„Es ist schwer, darüber zu reden. Ich werde nicht verrückt, aber wenn ich dir jetzt davon erzähle, glaubst du vielleicht, ich würde den Verstand verlieren …“ Walter geriet ins Stocken.
„Walter“, beruhigte ich ihn sanft, „natürlich wirst du nicht verrückt. Was ist denn mit dir los?“ „Ich höre so ’nen Scheiß“, antwortete er. „Meist nach Gigs. Ich kann nicht schlafen.“
„Du hörst Scheiße“, zog ich ihn auf. „Hm, das ist interessant.“
„Onkel Louis!“ Er klang erschüttert und nervös. „Ich habe wirklich Angst.“
„Erzähl mir doch, was abgeht“, forderte ich ihn auf, nun völlig ernst.
„Unsere Auftritte waren in der letzten Zeit verdammt gut. Intensiv. Ich habe toll gesungen, doch meine Mundharmonika-Soli wurden sogar noch besser und besser.“
„Das ist doch klasse.“
„Ja, alles cool, und das Publikum ist voll ausgerastet.“
„Das ist doch cool“, stimmte ich ihm zu. „Und wo liegt nun das Problem?“
„Ich verstehe nicht, was abgeht oder warum es passiert, doch ich glaube, eine sehr tiefe Verbindung zu den Leuten vor der Bühne herzustellen.“
Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Vorstellung, wovon Walter gerade sprach, aber ich versuchte, nicht verständnislos auszusehen.
Er redete mit ernster Stimme weiter. „Ich weiß, dass du mit Künstlern zu tun hast, die psychische Probleme haben, diese aber in ihre kreative Arbeit einfließen lassen.“
„Walter, erzähl mir doch, was los ist.“
„Ich habe schon in der Vergangenheit mit dir darüber gesprochen. Einige unserer Fans kommen jeden Abend, verharren oft in derselben Position.“
„Das irritiert dich? Ich erinnere mich daran, dass du davon geredet hast.“
„Ich hasse es, verdammt noch mal, hasse mich, weil ich es hasse: Sie sind ja Fans. Sie bezahlen schließlich die Miete. Doch ich habe das Gefühl, dass ich sie nicht mehr gewinnen muss, dass ich sie schon gepackt habe. Sie sind keine Herausforderung mehr, wissen, was ich als Nächstes mache, was ich zwischen den Songs sage. An einigen Abenden ertappe ich mich dabei, wie ich ihrer emotionalen Führung folge, statt mich auf die eigene Reise zu begeben.“
„Verstehe, aber du meintest, so ein Zeug zu hören. Was genau hörst du? Hat das etwas mit den loyalen Fans zu tun?“
„Nach dem Ende der Musik, wenn der Applaus verebbt, höre ich in meinem Kopf Musik, die einfach weiterläuft – und manchmal empfinde ich das als sehr düster.“
„Klingeln deine Ohren?“
Walter lachte. Er hatte ein rhythmisches Lachen, das dem Rattern eines Maschinengewehrs ähnelte. Einen Augenblick lang verschwanden die Sorgen aus seinem Gesicht, und er sah wieder jung aus. „Ja, natürlich klingeln sie. Doch das hier ist was anderes. Es ist Musik, Klang und mehr als etwas, das sich in den Ohren abspielt. Es ist in meinem Kopf, und ich kann es sogar fühlen. Es ähnelt einer Art Attacke. Sound-Attacken. Das hört sich verrückt an. Ich wusste, dass es sich verrückt anhört.“
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