Mich stimmt es traurig, zugeben zu müssen, dass ich als Vater mittleren Alters zu Beginn der Achtziger vor den Drogen kapitulierte. Ich knallte mir das Hirn zu und wäre vermutlich mittellos gestorben, wäre ich nicht wie durch ein Wunder gerettet worden. Meine Frau Pamela hatte mich verlassen, wobei sie mir erklärte, dass sie sich in ein Kloster begebe. Viele Jahre lang wusste ich nicht, wo sie sich aufhält. Sie ließ mich mit Rain sitzen, eigentlich unglaublich, doch es stellte sich als cleverer Schachzug heraus, zumindest, was mich betraf. Die Verantwortung, mich um Rain kümmern zu müssen, die damals noch mit Walter zur Schule ging, rettete mir wahrscheinlich das Leben. Ich habe mich seitdem auf meinem Spezialgebiet so gut gemacht wie Walter auf seinem. Denn heute bin ich – während Walter ein berühmter Rockstar ist – ein bekannter und allseits respektierter Kunsthändler in dem Segment, das man als Outsider Art kennt. Die etwas snobistischen Galeriebesitzer in New York – und natürlich die Franzosen, die auf den Begriff kamen – nennen es auch Art Brut. Er meint das Zeichnen, Malen, die Bildhauerei, das Schnitzen und Schreiben von Künstlern, die anders denken und tatsächlich auch anders leben. Manchmal sind ihre Arbeiten naiv, manchmal sind sie obsessiv und manchmal außergewöhnlich genau oder detailliert. Hinter solchen Werken steckt meist eine einzelne Idee, ein einzelnes System. Dort zeigt sich gelegentlich eine unterschwellige Offenbarung, eine Vision oder ein mentaler Ausbruch. Die Künstler fühlen sich gequält oder sogar besessen. Möglicherweise hören sie wie Schizophrene Stimmen und glauben, fremdgelenkt zu sein. Manchmal fühlen sie sich von Gott geleitet.
Das Wunder, von dem ich rede, das, was mir mein Leben gerettet hat, lag in dem Talent, den Wert der Arbeit solch psychisch schwieriger Menschen zu erkennen. Vielleicht lag es an dem Schaden, den ich meinem Gehirn zugefügt hatte? Ich wurde einer der ersten europäischen Händler, die sich auf Outsider Art spezialisierten. Auf jeden Fall war ich der erste außerhalb von Frankreich und New York, und mittlerweile erwerben wohlhabende Sammler und sogar einige der besten internationalen Galerien das Zeug. Durch meinen Beruf als Händler begegnete ich schließlich auch Nikolai Andréevich.
Eines Tages im Frühling 1996, also vor sechzehn Jahren, rief mich eine Frau in meiner Londoner Wohnung an. Da ich keine Galerie führe, arbeite ich von zuhause aus.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Mr Doxtader, aber man sagte mir, dass Sie hierzulande der führende Händler für Outsider Art sind.“ Die Stimme der Frau klang heiser, hatte einen meiner Meinung nach vornehmen Akzent, gefärbt von einem leichten Tonfall aus dem Norden.
„Das stimmt“, bestätigte ich.
„Mein Name ist Maud Jackson. Ich bin die Frau Paul Jacksons von der Rockband Hero Ground Zero. Vielleicht erinnern Sie sich an sie?“
„Ja, das tue ich“, lautete meine Antwort. Doch ich zermarterte mir das Hirn auf der verzweifelten Suche, mich an einen ihrer Songs zu erinnern.
Sie erklärte, dass sie mir etwas zeigen wolle, was möglicherweise interessant sei.
Dann kam ich endlich darauf, dass Paul Jackson, der Gründer von Hero Ground Zero, ein Rockstar in den Sixties gewesen war, der sich Mitte der Siebziger in einen Schauspieler verwandelt hatte. Der Bandname sollte die Wut und Frustration seines jungen Publikums widerspiegeln, in der Sprache, die Salinger bei Der Fänger im Roggen benutzt hatte. Ein Kritiker hatte Holden Caulfield als „hero ground zero“ beschrieben.
„Was genau möchten Sie mir zeigen? Sind Sie Künstlerin?“ Zu dieser Zeit vertrat ich genügend Künstler, jeder meiner Klienten auf die eine oder andere Art ein kompliziertes Wesen. Ich wollte mich nicht übernehmen.
„Oh, nein“, erwiderte sie schnell. „In diesem Fall bin nicht ich die Künstlerin. Dürfte ich Sie aufsuchen?“
Wenige Tage später kam Maud Jackson zu meinem Apartment (meiner Galerie) in Richmond im Westen Londons. Als ich ihr die Tür öffnete, musste ich unwillkürlich lächeln.
„Mrs Jackson?“ Ich zögerte. „Kommen Sie doch herein. Ich erwartete eigentlich jemand …“
Sie fiel mir ins Wort. „Jüngeres? Älteres?“
„Nein, überhaupt nicht!“ In diesem besonderen Augenblick spielte ihr Alter keine Rolle. Ich taxierte sie rasch – so wie man es immer macht, wenn ein Unbekannter vor der Tür steht, den man zu sich hineinbitten und ihm ein behagliches Gefühl vermitteln muss. Dabei bemerkte ich ein leichtes, aber spürbares Flattern in meiner Herzgegend. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.
Maud Jackson schritt mit einer Eleganz und Würde an mir vorbei, dank derer ich – als ich sie von hinten betrachtete – ein lustvolles Gefühl in mir aufsteigen spürte. Schnell riss ich mich wieder zusammen, doch die Noblesse, mit der sie sich bewegte, faszinierte mich. Die Neigung ihres Kopfes, als sie sich umdrehte und mir die Hand reichte, weckte in mir den Eindruck, als hätte ich sie früher schon einmal getroffen. Der Ton ihres ergrauenden Haares wies auf ein früheres Naturblond hin. Ihre Haut begann, leicht zu erschlaffen und sich minimal zu verfärben. Der Teint war ungleichmäßig, doch ihre kräftigen Wangenknochen wiesen auf eine beeindruckende Schönheit oder zumindest Attraktivität hin, die sie in jüngeren Jahren ausgestrahlt haben musste. Sie war nicht groß, doch hatte eine eindrucksvolle und aufrechte Haltung, was ihr Präsenz verlieh. Ihre Schultern wirkten breit, und möglicherweise war sie Leistungsschwimmerin gewesen. Die Augen waren blass-blau. Sie besaß eine ehrliche und direkte Art, den anderen zu betrachten, und dieses beunruhigende Starren deutete auf eine lebendigere Vergangenheit hin. Ich schätzte ihr Alter auf zwischen 45 und 50 Jahre, doch es war schwer zu bestimmen.
Ich führte Maud in mein Wohnzimmer, dekoriert mit den Arbeitern der meisten Künstler, die ich vertrat. Viele der besten Kunstgegenstände hatte ich für mich behalten, was eine lohnende Investition gewesen war, die mich zumindest in finanzieller Hinsicht auf eine Stufe mit Walter stellte. Ohne zu zögern ging Maud auf ein beeindruckendes Stück zu, das ich von seinem Schöpfer bekommen hatte: das Bild eines Kalenders, über und über bedeckt mit Daten und Zahlen.
„Ich liebe es“, rief sie. „Von wem stammt das?“
„Simeon Blake. Er hat ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen für Daten und historische Ereignisse. Die Bewegung im Bild dreht sich um mein Geburtsdatum und führt einige tausend Jahre sowohl vor als auch zurück.“
„Er nutzte einen Computer zur Berechnung, dass Ihr Geburtstag 1945 auf einen Mittwoch fiel?“
„Er berechnet das in Mikrosekunden im Kopf – auch die Zeitverläufe. In diesem Gemälde wählte er nur die Geburtstage am 20. Juni aus, die auf einen Mittwoch fielen. Doch nicht nur das. Er kann bedeutende Events, Geschehnisse und Fakten zu jedem ausgewählten Tag spontan hinzufügen.“
„Bemerkenswert!“ Maud lehnte sich näher an das Bild, als könnte sie damit das Geheimnis von Simeons Gabe entschlüsseln. „Hier, an Ihrem Geburtstag, kann ich keine bedeutenden Weltereignisse finden.“
„Ich kam kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zur Welt …“
„Ich auch“, unterbrach sie mich und hätte mir dadurch den Kommentar ermöglicht, dass sie jünger aussehe, als ihr Alter vermuten lasse. Dem Himmel sei Dank, vermied ich das; es hätte sicherlich kitschig gewirkt. Sie war also so alt wie ich, um die fünfzig?
„Oh! Somit …“, versuchte ich das Gespräch fortzusetzen und fühlte mich immer stärker von dieser attraktiven Frau mittleren Alters angezogen.
„Also einige Monate“, begann sie, „bevor die Berichte über die Gaskammern veröffentlicht wurden.“
„Äh, ja“, antwortete ich. „Meine Mutter Claire war Jüdin.“
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