SIR ARTHUR CONAN DOYLE
Der letzte Sherlock-Holmes-Roman
Leipziger Ausgabe
Vollständig neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von
Susanne Luber
neu gefasst und mit Anmerkungen versehen von
Gerd Haffmans
HAFFMANS VERLAG
BEI ZWEITAUSENDEINS
Die englische Originalausgabe The Valley of Fear erschien zuerst 1914 bis 1915 im Strand Magazine, London, die Buchausgabe folgte 1915 bei Smith, Elder & Co., London und George H. Doran Company, New York.
Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel Das Tal des Grauens, übersetzt von H. O. Herzog im Verlag Dürr & Weber, Berlin 1926.
Die vorliegende vollständige Neuübersetzung folgt weitgehend der Textfassung der historisch-kritischen Ausgabe der Oxford University Press, herausgegeben von Owen Dudley Edwards, Oxford, New York 1998.
Weiteres in der Editorischen Notiz am Schluss des Bandes.
1. Auflage, Winter 2021.
Alle Rechte vorbehalten. Alle Rechte an dieser Neuedition & Neuübersetzung vorbehalten.
Copyright © 2021 by Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Versand-Dienst GmbH, Bahnhofstr. 30, 82340 Feldafing.
Gestaltung & Produktion: Zweitausendeins.
Umschlagsillustration: Christiane Nebel.
ISBN 978-3-96318-138-2
I. TEIL
Die Tragödie von Birlstone
1. Kapitel: Die Warnung
2. Kapitel: Mr Sherlock Holmes doziert
3. Kapitel: Die Tragödie von Birlstone
4. Kapitel: Dunkelheit
5. Kapitel: Die Personen des Dramas
6. Kapitel: Ein erster Lichtblick
7. Kapitel: Die Lösung
II. TEIL
Die Scowrer
1. Kapitel: Der Mann
2. Kapitel: Der Logenmeister
3. Kapitel: Loge 341, Vermissa
4. Kapitel: Das Tal der Angst
5. Kapitel: Die dunkelste Stunde
6. Kapitel: Gefahr
7. Kapitel: Eine Falle für Birdy Edwards
Epilog
ANHANG
Anmerkungen
Editorische Notiz
Kompendium
Bemerkungen zu Sherlock Holmes von Joachim Kalka
Eine Einführung in den Kriminalroman
Who’s Who
Kleine ACD-Chronik
I. TEIL
Die Warnung
Ich möchte denken –«, sagte ich.
»Das ist anzuraten«, fiel Sherlock Holmes mir ungeduldig ins Wort.
Ich glaube, ich bin einer der langmütigsten aller leidgeprüften Menschen auf dieser Erde, aber diese sarkastische Unterbrechung ärgerte mich doch.
»Wirklich, Holmes«, sagte ich tadelnd, »manchmal sind Sie unausstehlich.«
Aber er war zu tief in Gedanken versunken, um auf meine Zurechtweisung zu antworten. Den Kopf in die Hände gestützt, das unberührte Frühstück vor sich, starrte er auf ein Blatt Papier, das er soeben aus einem Briefumschlag gezogen hatte. Nun nahm er den Umschlag zur Hand, hielt ihn gegen das Licht und examinierte ihn sorgfältig: Vorderseite, Rückseite, Klappe.
»Das ist Porlocks Handschrift«, murmelte er nachdenklich. »Ziemlich sicher ist das Porlocks Handschrift, auch wenn ich sie nur zweimal gesehen habe. Das kleine griechische ε mit diesem eigenartigen Schnörkel oben ist unverkennbar. Aber wenn die Nachricht von Porlock kommt, geht es um eine Sache von größter Bedeutung.«
Obwohl er mehr zu sich selbst sprach als zu mir, ließen seine Worte meinen Groll im gleichen Maße schwinden wie sie mein Interesse weckten.
»Wer ist dieser Porlock?« fragte ich.
»Porlock ist ein Nom de Plume, Watson, ein reines Erkennungszeichen. Dahinter verbirgt sich eine schillernde, schwer fassbare Persönlichkeit. In einer seiner früheren Botschaften hat er mir offen mitgeteilt, dass dies nicht sein richtiger Name sei, und er hat mir zu verstehen gegeben, dass alle Versuche, ihn in dieser von Menschen wimmelnden Millionenstadt aufzuspüren, umsonst sein würden. Porlock ist wichtig, weniger als Person, denn wegen einer anderen außergewöhnlichen Persönlichkeit, mit der er in Verbindung steht. Stellen Sie sich das etwa so vor wie das Verhältnis des Pilotfisches zum Hai oder des Schakals zum Löwen – das Unbedeutende verbündet sich mit dem Furchterregenden. Aber er ist mehr als furchterregend, Watson, er ist teuflisch – im höchsten Grade teuflisch. So geriet Porlock in mein Blickfeld. Ich habe Ihnen doch von Professor Moriarty erzählt?«
»Dem berüchtigten hochgebildeten Verbrecher, der in der Unterwelt so berühmt ist wie –«
»Sie machen mich erröten, Watson«, murmelte Holmes abwehrend.
»Ich wollte sagen, wie er dem großen Publikum unbekannt ist.«
»Touché, Watson! Sehr gut!« rief Holmes. »Sie entwickeln neuerdings einen unerwarteten pikaresken Humor, gegen den ich mich künftig wappnen muss. Aber wenn Sie Moriarty einen Verbrecher nennen, ist das juristisch gesehen eine Verleumdung, und gerade darin liegt der großartige künstlerische Reiz der Sache. Der größte Ränkeschmied aller Zeiten, das planende Hirn hinter schrecklichen Verbrechen, der alles steuernde Kopf der Unterwelt – ein Kopf, der die Geschicke ganzer Nationen zum Guten wie zum Bösen lenken könnte: Das ist dieser Mann. Dabei ist er über jeden gemeinen Verdacht erhaben, gegen jede Anschuldigung immun. Er versteht es bewundernswert, die Fäden zu ziehen und selbst unsichtbar zu bleiben, sodass er Sie wegen der Worte, die Sie gerade geäußert haben, jederzeit vor Gericht zerren könnte, wo ihm als Entschädigung für seine verletzten Gefühle ein Schmerzensgeld zugesprochen würde, das so hoch ist wie Ihre Jahrespension. Schließlich ist er der gefeierte Autor von ›Stellardynamik eines Asteroiden‹, einem Werk, das sich zu den höchsten Höhen der reinen Mathematik aufschwingt und von dem gesagt wird, in der gesamten Fachpresse gäbe es niemanden, der in der Lage ist, es zu rezensieren. Darf man einen solchen Mann in Verruf bringen? Der verleumderische Arzt und der in seiner Ehre gekränkte Professor – so wären Ihre Rollen vor Gericht verteilt. Darin liegt Genie, Watson. Aber mein Tag wird kommen – sofern die kleinen Ganoven mich am Leben lassen.«
»Ich wollte, ich könnte dabei sein!« rief ich eifrig. »Aber Sie wollten mir etwas über diesen Porlock erzählen.«
»Richtig. Porlock, wie er sich nennt, ist ein Glied in der Kette, die das Schwergewicht hält, aber er steht nicht im Zentrum des Geschehens. Unter uns gesagt, Porlock ist nicht gerade das stärkste Glied in der Kette. Aber er ist die einzige Schwachstelle, die ich bisher finden und erproben konnte.«
»Keine Kette ist stärker als ihr schwächstes Glied.«
»Sehr richtig, mein lieber Watson. Genau deshalb ist Porlock von so immenser Bedeutung. Er hat offenbar noch ein rudimentäres Bewusstsein für Recht und Unrecht, das ich durch die gelegentliche Übersendung einer Zehn-Pfund-Note stimuliere, welche ihn auf Umwegen erreicht. Dafür hat er mir ein oder zwei Mal Informationen zukommen lassen, die von höchstem Wert waren, denn sie ermöglichten es, ein Verbrechen zu verhüten, statt es zu rächen. Ich bin sicher, wenn wir erst den richtigen Code haben, werden wir feststellen, dass diese Botschaft von der eben erwähnten Art ist.«
Holmes strich das Papier auf seinem unbenutzten Frühstücksteller glatt. Ich trat hinter ihn, beugte mich über seine Schulter und starrte auf die sonderbare Nachricht. Sie lautete folgendermaßen:
534 K2 13 127 36 31 4 17 21 41
DOUGLAS 109 293 5 37 BIRLSTONE
26 BIRLSTONE 9 127 171
»Werden Sie daraus schlau, Holmes?«
»Offensichtlich ein Versuch, mir eine geheime Information zu übermitteln.«
»Aber was können wir mit einer chiffrierten Nachricht anfangen ohne den Code dazu?«
»In diesem Fall gar nichts.«
»Was heißt ›in diesem Fall‹?«
»Weil es viele Geheimschriften gibt, die ich so leicht entziffere wie die kryptischen Botschaften in der Seufzerspalte einer Boulevardzeitung. Solche unbeholfenen Tarnungsversuche sind für mich ein intellektueller Spaß. Aber das hier ist etwas anderes. Diese Zahlen beziehen sich offenkundig auf Worte in einem bestimmten Buch und auf einer bestimmten Seite. Aber solange ich nicht weiß, in welchem Buch und auf welcher Seite, bin ich machtlos.«
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