„Und – sind Sie es auch?“, wollte sie wissen.
„Mein Vater war kein Jude, aber die gesamte Familie mütterlicherseits wurde im Krieg getötet. Wie dem auch sei, ich führe ein weltliches Leben, und was Gott anbelangt, bin ich mir nicht so sicher. Und Sie?“
„Früher hätte ich Ihre Ansicht geteilt, doch die Ereignisse der letzten Zeit haben mich dazu gebracht, alles in Frage zu stellen, was ich glaube oder nicht glaube.“
Ich bot ihr Tee an. Sie stimmte zu, und ich ging in die Küche, um siedendes Wasser über die Blätter in einer hübschen blauen Porzellankanne zu gießen, die ich nur für Besucher hervorkramte. Ihre Stimme drang aus dem Wohnzimmer zu mir, und ich spürte wieder einen Stich im Herzen. Klang sie etwa wie meine lang verlorene Frau? Ich konnte mir nicht erklären, was das Ziehen in der Herzgegend verursachte.
Ich trug den Tee in den anderen Raum und stellte ihn ab.
„Also“, drängte ich. „Verraten Sie mir doch bitte, was Sie mir zeigen wollen.“
Sie riss sich zusammen, und ich spürte in dieser Sekunde, dass sie mir eine Art Geschichte erzählen wollte. „Mein Mann wurde für seine Band zu alt. Die anderen Mitglieder waren jünger und wollten häufiger touren. Er fühlte sich nicht wohl dabei. In den frühen Siebzigern gab es keine Anzeichen, dass sich das Touren reduzieren würde.“
„Mein Patenkind Walter ist auch Musiker“, warf ich ein, sie damit unterbrechend. „Als Kind war er ein großer Fan der Band Ihres Mannes.“
Ich spürte sofort, dass ich das Falsche gesagt und Maud Jacksons Mann als Relikt vergangener Jahre dargestellt hatte. „Aber natürlich durften sich Hero Ground Zero noch über eine Menge Hits freuen, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie hatten den letzten Hit in den frühen Siebzigern. Doch 1975 stieg die weltweite Publikumsnachfrage immer noch, trotz der fehlenden Erfolge der Anfangszeit. Als die Jahre ins Land zogen, sah ich immer weniger von Paul.“
Exakt in dem Augenblick wurde Maud für mich zur Realität. Sie war eine gutaussehende Frau, verheiratet mit einem immens erfolgreichen Rockstar, und hatte wahrscheinlich den Großteil ihres Lebens in seinem Schatten verbracht, vielleicht einsam und allein.
Ich wusste von Jacksons Rolle in einem Film. Bevor sich Walter zu einem R&B-Puristen gemausert hatte, war er ein großer Fan von Hero Ground Zero gewesen. Später machte ich mich an die Recherche und erfuhr die ganze Geschichte. Mit 43 Jahren, zermürbt vom kommerziellen Erfolg ohne kreativen Höhepunkt, stieg Jackson 1979 im Zenit des Erfolgs aus der Gruppe aus, um Schauspieler zu werden. Das Drehbuch zu dem Streifen – The Curious Life of Nikolai Andréevich – wurde von John Boyd geschrieben, der auch Regie führte. Der hochangesehene britische Kameraspezialist arbeitete also mit Jackson in der Rolle des Andréevich, eines charismatischen Musikers, der einen religiösen Kult ins Leben gerufen hatte.
„Paul empfand die Schauspielerei als extrem hart“, fuhr Maud fort. „Mehrere Monate lang jeden Tag vor dem Morgengrauen aufzustehen und bis nach Mitternacht zu arbeiten unterschied sich von der intensiven, aber sporadischen Arbeit mit der Band. Innerhalb der Gruppe fungierte er als Boss und kontrollierte den Arbeitsplan und das Pensum. Paul war damals ein harter Trinker, doch er hörte auf, um mit den Anforderungen des unbarmherzigen Filmdrehs klarzukommen. Ich möchte John Boyd zugutehalten, dass er niemals vorgab, dass die Filmarbeiten für meinen Mann einfach würden. Doch er war berühmt dafür, anzutreiben und pedantisch zu sein. Als die Dreharbeiten zur letzten Szene immer näher rückten, hatte sich Pauls Angst ins Unermessliche gesteigert. Er wusste, dass er schon bald wieder für sich allein verantwortlich wäre, frei von der Disziplin der Dreharbeiten, die ihm geholfen hatte, nüchtern zu bleiben.“
Maud schien sich zu fragen, ob ich den Streifen je gesehen hatte.
„Ich habe ihn gesehen, ja“, antwortete ich.
„Erinnern Sie sich an die letzte Szene?“
Ich versuchte, mir die ikonische Einstellung wieder ins Gedächtnis zu rufen, und erinnerte mich, dass sie auf eine bestimmte Art absurd war, überladen. Maud erlöste mich von der Mühe, kramte im Inneren ihrer Handtasche und zog eine verknitterte Seite des Drehbuchs heraus.
Licht. Blendendes weißes Licht. Da steht ein Mann mit ausgestreckten Armen, den Rücken uns zugewandt. Er ist bis zur Hüfte nackt. Sein lockiges, schulterlanges Haar schimmert goldfarben. Wir können sein Gesicht nicht erkennen. Als wir uns dem Mann langsam von hinten nähern, beginnt sein Körper, das Licht abzuschirmen. Die Sonne geht unter. Seine Haare bilden einen Lichtkranz. Plötzlich springt der Mann nach vorn, und wir fliegen mit ihm, segeln durch die Luft, über die blaugrüne Landschaft, dem Sonnenuntergang entgegen.
„Das ist also die letzte Szene des Films?“ Ich war verwirrt. „Sie wirkt wie ein bombastischer Beginn, die Eröffnungsszene zu einem Abenteuer.“
Maud lachte. „Das hätte sie vielleicht werden sollen. Jedoch wurde sie für meinen Mann zum Anfang einer neuen Lebensphase – und für mich auch. Es handelt sich jedoch um das Ende des Films.“
„Mein Mann stand auf dem Gipfel des Skiddaw im Lake District.“ Sie klang, als sei sie den Tränen nahe. „Er schaute auf die Pracht und Herrlichkeit Derwentwaters hinab und auf die blaugrünen Hügel; es ist wohl der außergewöhnlichste Flecken Erde. Die Kameras liefen, und eine hinter ihm aufgestellte Jupiterlampe versengte seine Haare. Er war von den zwei Monaten harter Arbeit ausgelaugt. Seit der Zeit haben die dort ansässigen Menschen all die beeindruckenden Bilder und die Geschehnisse wie eine Volkserzählung weitergegeben.“
Sie beschrieb die Szene wunderschön. Damals realisierte ich – ihr Mann war immer noch unerreichbar für sie –, dass sie versuchte, ihren Verlust poetisch zu verarbeiten und sich zu öffnen.
„Und was geschah?“, wollte ich wissen.
„Mein Mann hat den Verstand verloren.“
Maud erklärte, dass die besagte Szene für den Abspann bestimmt war. Das ist an sich schon ungewöhnlich, da Filme nur selten in chronologischer Abfolge gedreht werden. Man hatte damit – wie man so schön sagt – alles im Kasten. Die Arbeiten beendet, gratulierten sich die Crewmitglieder.
„Einer von der Crew erzählte, dass er mit dem Flugdrachen den Berg hinabgleiten sollte, wo ein zweites Team nahe des Flusses wartete, um ihn beim tiefen Überflug zu filmen. Danach wollten sie im zweiten Team-Jeep zurückkehren. Der nacheilende Hubschrauber konnte ihm wegen des verblassenden Lichts aber nicht folgen. Er verschwand in der Finsternis.“
„Wo landete er?“, wollte ich wissen. Ich wurde immer neugieriger, wollte mehr erfahren.
„Niemand schien etwas zu wissen“, erklärte Maud. „Sie meinten, dass er vielleicht in eine Aufwärtsströmung gekommen und dicht über dem Boden weitergeflogen sei, obwohl es zu dem Zeitpunkt schon stockfinster war. Sie berichteten, dass er schon ein regelrechter Experte geworden sei. Er hatte natürlich trainiert, aber …“
„Natürlich fand dann an dem Abend im nahe gelegenen White Horse Inn am Fuße der Hügel eine feucht-fröhliche Abschlusszusammenkunft statt.“
Maud schaute plötzlich zur Seite.
„Ich hatte ausgemacht, mich dort mit ihm zu treffen, doch er tauchte nicht auf. Mir wurde schnell klar, dass irgendetwas nicht stimmte, und ich machte mich allein auf die Suche.“ Sie verstummte und blickte einen Moment lang in den Himmel.
„Glauben Sie an Zufälle, Mr Doxtader?“, fragte Maud, als sie mich wieder ansah, meine Mimik prüfend, auf der Suche nach einem Anzeichen, ob ich möglicherweise ungläubig war.
„Ich schreibe ihnen keine so große Bedeutung zu, wie es manch anderer macht.“
„Ich auch nicht“, stimmte sie zu. Sie blickte auf ihren Schoß. „Man hatte den Eindruck, als sei Pauls Verschwinden von vornherein geplant gewesen. Ich verdächtigte die Filmproduzenten. Es hätte wohl für einige Schlagzeilen gesorgt, was dem Film geholfen hätte. Mich überkam das Gefühl, als nähme niemand Pauls Verschwinden so wirklich ernst, glaubte, dass sie wüssten, wo er steckte.“
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